Interview mit Anna Gaskell und Mia Unverzagt
Interview in der Städtischen Galerie Bremen, am 4. September 2015 anlässlich der Ausstellung "Dialog - Anna Gaskell und Mia Unverzagt"
- INGMAR: Ihr habt eine besondere Art der Kooperation gewählt. Mia, wie schwierig war es, einen wichtigen Teil deiner bereits existierenden Arbeit wegzugeben, ohne das Ergebnis zu kennen? Anna, wie schwer war es, visuell vom bereits vorhandenen Werk einer Kollegin abhängig zu sein, das du gut kanntest?
- MIA: Wir hatten schon bei GESCHICHTEN ERZÄHLEN und ICH WEISS WAS JUNGS GEFÄLLT zusammengearbeitet, bevor wir uns geeinigt haben, dieses Projekt zu machen. Wir hatten schon viel über unsere Ideen gespochen und das, zusammen mit der Tatsache, dass ich Annas Arbeit schon lange kenne und schätze, hat es beinahe einfach gemacht, ihr meine Fotos zu geben und die Kleider zu ihr zu schicken.
- ANNA: Es ist lustig, dass du das Wort Kooperation verwendest. Es hat sich mehr wie ein Wagnis angefühlt. Es fiel mir leicht, mich von Mias Arbeiten zu distanzieren, weil ich glaube, sie hat eine Art die Kamera zu benutzen (weniger als Eindringling und mehr als Teilnehmerin), die für ihre Arbeitsweise bei diesen speziellen Fotos wichtig war. Ich möchte die Kamera auf eine andere Art benutzen, als Werkzeug zum Aufzeichnen, zum Katalogisieren von Bewegungen. Ich habe immer wieder über Mias Titel HALTEN SCHÜTZEN KLAMMERN nachgedacht, der für mich erschreckend bedürftig klingt; ich wollte diese Worte in einer methodischeren Form einsetzen, um mich zu meiner Arbeit anregen zu lassen.
- INGMAR: Anna, hattest Du über eine Arbeit wie diese nachgedacht, bevor du Mias Fotoserie gesehen und die Kleider von ihr bekommen hast?
- ANNA: Meine Arbeit zu machen, indem ich sie um die Vorstellung einer anderen Person davon was Kunst ist herum entwickle, hat mich sofort an eine Tänzerin erinnert und an deren Medium, ihren Körper. Es gibt einen Film von 1977 mit dem Titel: “The Children of Theatre Street”, über die Kirov Ballettschule, der von Fürstin Gracia Patricia von Monaco gesprochen wird. In diesem Film sitzt und betrachtet eine Gruppe von Juror*innen, wie junge Kinder für die Balettschule (die jetzt Mariinskiy heißt) vortanzen. Trainer*innen stehen mit den Tänzer*innen vor den Juror*innen und halten ihre Gliedmaßen, drücken, formen und biegen ihre kleinen Körper in einer seltsamen Untersuchung, wie weit sie dabei gehen können. Ich habe die Bilder dieses Films in den letzten 13 Jahren mit mir herumgetragen und auf eine Gelegenheit gewartet, bei der ich versuchen kann zu erklären, was mich daran fasziniert, wie die Entstehung von Tänzer*innen ins Leben gerufen wird
- INGMAR: Würdet ihr zustimmen, dass die beiden Serien für eure jeweilige Art mit Menschen zu arbeiten typisch sind? Selbst die Titel scheinen auf diese Unterschiede zwischen euch zu verweisen.
- ANNA: Künstler*innen arbeiten unterschiedlich mit Leuten, abhängig davon wo sie leben. Früher, als ich in Des Moins, Iowa gearbeitet habe, wo ich herkomme, wären die Leute beleidigt gewesen, wenn ich ihnen angeboten hätte, sie für ihre Zeit zu bezahlen. Bei den Lebenshaltungskosten in New York muss ich darauf bestehen, die Leute zu bezahlen. (Und die meisten Leute bestehen darauf, bezahlt zu werden.) “Invisible Storytellers” von Sarah Kozloff war die Inspiriation für den Titel VOICE OVER (Off-Stimme). Ich habe mir die Frau, die die Modelle anleitet (meine Nachbarin Anne) als Bauchrednerin vorgestellt.
- MIA: Für HALTEN SCHÜTZEN KLAMMERN habe ich so mit den Leuten gearbeitet wie ich das immer tue. Es ist ein Prozess in dem ich den Rahmen vorgebe. Ich wähle das Setting und entscheide wie die Struktur aussehen soll. Dann lade ich Andere ein in dieses Setting zu kommen und dort zu tun was sie möchten / was sie sich zu tun vorstellen können innerhalb der vorgegeben Situation. Ich bin sehr neugierig darauf was sie wählen und wie sie sich bewegen und interagieren und begleite sie dabei mit der Kamera. Meine Art zu arbeiten beeinhaltet viel Offenheit.
- INGMAR: Ihr habt beide nicht mit professionellen Schauspieler*innen gearbeitet, trotzdem gibt es einen deutlichen Eindruck von Schauspiel in beiden Serien. Warum ist es anders, einfacher, besser mit normalen Leuten zu arbeiten? Und wie schwierig ist es, Leute, die ihr persönlich kennt, in die Rollen zu stecken, die sie in euren Fotos spielen?
- ANNA: Das hängt vom Projekt ab. Ich arbeite lieber mit Schauspieler*innen, die bezahlt werden als Freund*innen um einen Gefallen zu bitten. Eine große Gruppe meiner vielbeschäftigten Freund*innen zusammen zu bekommen, um mir an einem Samstag Nachmittag bei Aufnahmen zu helfen ist mühsam. Aber es war wichtig für VOICE OVER, für jede Rolle in diesen Fotos ganz verschiedene Frauen zu haben, das Modell, die Trainerin, die Jurorinnen. Auf eine seltsame, “Jungianische” Weise stellte ich mir alle diese Rollen als von mir gespielt vor. Und wer könnte mich besser verteten, als die Frauen, die ich am meisten liebe.
- MIA: Der Punkt ist: ich stecke Leute nicht in Rollen. Ich lade sie in Situationen ein, es geht um einen sozialen Raum, in dem wir uns bewegen. Und der verändert sich, wenn Geld im Spiel ist, weil sich durch Geld die Gründe warum jemand etwas tut verändern, daher arbeite ich nie mit Schauspieler*innen.
- INGMAR: Ihr wählt beide eine Mischung von Medien, beginnt mit einer Kunstaktion (Performance scheint keine gute Beschreibung eurer Serien zu sein) und produziert dann eine Fotoserie als visuelles Ergebnis für die Ausstellung. Wie wichtig ist die Aktion am Anfang und warum ist es mehr als ein Tableau vivant, aber trotzdem nicht so wichtig, uns an der Performance teilnehmen zu lassen?
- ANNA: Ich würde die Fotos in VOICE OVER nie als Performance verstehen. Ich möchte, dass die Produktion, die stattfindet, außerhalb des Bildes ist und außerhalb des Bildes bleibt. Die Bilder sind Illustrationen von Anweisungen. Ich stelle sie mir vor wie Fotografien in einem Medizinbuch über Herz-Lungen-Reanimation. Es könnte zum Beispiel das Bild einer Person sein, die einer andern Person auf den Brustkorb drückt, oder ihr die Nase zusammenkneift, aber ich würde diese Darstellungen niemals als Performance verstehen.
- MIA: Die Leute, die ich einlade, arbeiten für Stunden an den Performances. Normalerweise dauern sie einen ganzen Tag und es geht darum, gemeinsam in einer Situation zu sein. Die Fotos sind Ausschnitte, sie werden nach formalen Kriterien ausgewählt. Es geht in meiner Arbeit sehr um formale Fragen.
- INGMAR: Auffällige Kleidung ist ein wesentlicher Verbindungspunkt zwischen euren Arbeiten. In wie weit haben diese eigenartigen Elemente die jeweilige Serie beschränkt, inwieweit sie befördert?
- MIA: Da die Kleider deutlich aus einer lange vergangenen Zeit stammen und die Art wie sie benutzt werden zeitgenössisch ist, eröffnet sich durch ihre Verwendung ein Abstand, ein Zwischenraum. Und ich liebe Zwischenräume.
- ANNA: Kostüme, Beleuchtung, und Location sind wichtig, unabhängig davon ob man mit wirklichen Schauspieler*innen oder mit Freund*innen arbeitet, oder ob es seine Turnhalle ist oder ein Blumenfeld. Ich glaube Mia würde zustimmen, dass all diese Elemente von großer Bedeutung sind um eine Welt zu gestalten, die für die Betrachtenden glaubhaft ist.
- INGMAR: Ausgehend von den Kleidern gelangt ihr zu sehr unterschiedlichen Settings (Aussenraum, romantisch, expressionistisch versus Innenraum, renaissance, Neue Sachlichkeit) Ist das eine persönliche künstlerische Interpretation der Kleider oder wie wichtig sind diese für das spezielle Setting der Fotos?
- MIA: Ich interessiere mich dafür, wie Körper sich bewegen und wie diese Bewegungen von der Umgebung abhängig sind. Von der physischen und von der sozialen Umgebung. Kleidern, Architektur, Möbeln, gesellschaftliche Konventionen, persönliche Vorlieben und Wahlmöglichkeiten.
- ANNA: Die Kostüme, die Mia ausgewählt hat, waren offensichtlich Hauskleider für Frauen aus den 70er Jahren und ich war ein bisschen panisch, weil ich nicht wusste, wie ich diese spezielle Zeit-Falle in meine Arbeit einfügen sollte. Ich versuche, Kostüme immer mit einer Qualität von Zeitlosigkeit zu gestalten. Ich möchte nicht, dass die Betrachtenden durch das, was die Schauspieler*innen tragen, ein Jahrzehnt festlegen können… vielleicht können sie es darüber bestimmen, wie die Fotos aufgebaut sind, aber ich versuche, diesen Faktor bei den Kostümen zu vermeiden. Am Schluss haben wir Mias Kleider zerschnitten und die Krägen und Knöpfe geändert, um die zeitliche Einordnung zu erschweren.
- INGMAR: Eure Fotos haben etwas Surreales. War die absurde Differenz zwischen den künstlichen Posen und dem natürlichen Settings (dem Blumenfeld ebenso wie der Turnhalle) beabsichtigt?
- MIA: Ich würde für meine Arbeiten weder von Posen sprechen, noch von Künstlichkeit. Absurdität zu vermeiden ist allerdings unmöglich, wenn man in der aktuellen gesellschaftlichen Situation arbeitet, ich glaube nur, sie speist sich bei HALTEN SCHÜTZEN KLAMMERN aus anderen Quellen.
- ANNA: Bei den Bewegungen von Anne und den Schauspieler*innen geht es um Anweisungen. Ich brauchte eine Umgebung, die einen disziplinierten und systematischen Ausdruck fördern würde. Die Turnhalle in der YMCA Jugendherberge in der 92sten Strasse in New York hat auch einen Aufführungsbereich mit einer winzigen in den Saal eingebauten Bühne. Die Fotos von VOICE OVER werden von der Bühne am Ende des Raumes eingerahmt, bei der der große Vorhang zugezogen ist. Für diese Bilder war das Theater mit dem geschlossenen Vorhang perfekt, um die Tatsache anzudeuten, dass dies keine Performance ist.
- INGMAR: Eure Fotografien laden dazu ein, sie erzählerisch zu lesen. Wie narrativ habt ihr die Serien geplant?
- MIA: Susan Sontag hat gesagt: “Nur die Narration erlaubt uns zu verstehen”. Ich hoffe, meine Narration ist schäbig und fragmentiert genug, um ein klares Verstehen zu vermeiden. Ich glaube, dass das auch für Annas Arbeit gilt.
- INGMAR: Beide Serien stehen offensichtlich als Kunstwerke für sich selbst. Wo sind die starken Verbindungen zwischen beiden Arbeiten, die wir in zukünftigen Ausstellungen nicht sehen werden? Oder, was gewinnt man durch den direkten Vergleich, den man als Besucher hier in der städtischen Galerie und in diesem Katalog anstellen kann?
- MIA: Ich glaube, dass Dinge Geschichten ansammeln und speichern (deshalb arbeite ich gerne mit stark abgenutzten Gegenständen, Kleidern und Räumen). Ich bin sicher, dass einige der Verbindungen, die man hier sehen kann, an den Arbeiten haften bleiben, selbst wenn diese nicht zusammen ausgestellt werden.
- ANNA: Die starken Verbindungslinien, die sich kontinuierlich durch mein Werk ziehen, spielen mit der Idee von Original und Fälschung, von Wirklichkeit und Kopie. Vor einem Jahr, letzten September, haben Douglas Gordon und ich eine Ausstellung gemacht, bei der wir mit verwandten Themen spielten. Ich habe es wirklich genossen, ausgehend vom Werk eines anderen Künstlers zu arbeiten. Und als Mia darüber sprach, diese Ausstellung zusammen zu machen, dachte ich, es könnte eine Herausforderung sein, eine visuelle Ebene zu schaffen, die die Arbeiten immer miteinander in Beziehung setzen würde. Der Gedanke, dass die Arbeiten aus der Städtischen Galerie Bremen selbst nach der Ausstellung verbunden bleiben, wo auch sie zu sehen sein werden, hat mir gefallen. Ich bin definitiv eine größere Romantikerin im Hinblick auf meine Beziehungen zu meinen Freundinnen als in Bezug auf einen Mann, Freund oder Ehemann.
Ingmar Lähnemann
Im Dialog Anna Gaskell und Mia Unverzagt
Dialog ist ein Ausstellungsformat der Städtischen Galerie Bremen, in dem Bremer Künstlerinnen und Künstler mit ihren bestehenden internationalen Kontakten präsentiert werden. Mia Unverzagt tritt mit ihrer New Yorker Kollegin Anna Gaskell in Dialog. Beide Künstlerinnen haben für die Ausstellung in Zusammenarbeit neue Arbeiten entwickelt, die jede für sich stehen, in der gemeinsamen Präsentation jedoch zahlreiche Verbindungen zeigen. Für ihren Videofilm Telling Stories (2015) hat Anna Gaskell mit 16 Schauspielerinnen gearbeitet. In einer Castingsituation erzählen sie vorgegebene Sexgeschichten als eigene Erlebnisse, die Anna Gaskell über Jahre aus den Berichten männlicher Bekannter notiert hat. Wie in früheren Werken arbeitet sie mit der Aneignung fremder Erzählungen von intimen Erfahrungen, spielt diese jedoch zum ersten Mal in einem professionellen Rahmen durch, den sie als absurdes Setting, als spezifische Dialogform darstellt, indem sie das Casting für den Film zum Gegenstand des Films macht.
Mia Unverzagt schließt mit I know what boys like (2015) auf einer ebenfalls mediumimmanenten Ebene an und arbeitet mit den gleichen Schauspielerinnen in einer Interviewsituation im Sinne eines „Making of“. Von diesem Dialog bleiben einzelne Fotoaufnahmen der Schauspielerinnen mit jeweils einem Untertitel als Zitat aus deren Aussagen sichtbar. Ihnen werden Ausschnitte aus Wohnzeitschriften der 1970er Jahre zur Seite gestellt, die den sexistischen Erzählungen, mit denen sich die Schauspielerinnen bei Anna Gaskell auseinandersetzen mussten, Interieurs assoziativ zuordnen und die eine Beziehung zu Mützen und Tüchern herstellen, aus denen die Akteurinnen eine Bekleidung für ihre „Rolle“ wählen konnten. Beide Künstlerinnen spielen dialogisch mit Dialogformen und Beziehungs- und Rollenmöglichkeiten, indem sie sich zueinander in ein künstlerisches Verhältnis setzen, ihre Arbeiten trotz ihrer exakten Kontrolle von Abläufen und der Auswahl der sichtbaren Bilder in hohem Maße der Interaktion mit den Schauspielerinnen überantworten und deren Aussagen in direkter Konfrontation dem Publikum der Kunstwerke gegenüberstellen. Es entsteht ein Spiel aus Aussagen und Kommentaren. In diesem Rezeptionsdialog fügen beide Ansätze ihren Teil zu den Themen Sexismus, Rollenaneignung, Geschlechterkonstruktion und Dialog bei, von denen der Videofilm und die Fotografien als autonome Kunstwerke nicht in gleichem Maße abhängig sind, die sie jedoch in besonderem Maße auszeichnen. Die beiden jüngsten Werke lösen ein Versprechen ein, welches sich im Œuvre beider Künstlerinnen findet, dem ein dialogisches Arbeiten, ein dialogisches Prinzip, zugrunde liegt. Mia Unverzagt entwickelt Foto-Performances, Foto-Inszenierungen, Foto-Enactments in Zusammenarbeit mit den Darzustellenden und mit großer Offenheit für den Prozess des Dialogs. Er entsteht aus bestimmten Fragestellungen ihrerseits und in der Interaktion zwischen den Dargestellten und ihrer Kamera, die entsprechend die Neutralität des Mediums negiert, die der Fotografie nach wie vor zugeordnet wird. Paradigmatisch für ihre Form eines Kunstdialogs steht die mehrere Serien umfassende Werkgruppe Darüber reden wir noch (2005 – 2009). Personen eines bestimmten Ortes wurden nach ihren Geschichten, Gefühlen, Erlebnissen oder Meinungen zu einer persönlichen Thematik befragt. Das Gespräch, das geführt wurde, ergab als rezipierbare Ergebnisse zwei bis drei Fotografien der Personen, die sich aus einem Fundus an farblich oder ornamental ähnlichen Kleidungsstücken für ihren „Auftritt“ bekleideten. Die Fragestellung taucht meist im Untertitel jeder Serie auf, ansonsten weiß man auf einer textlichen Ebene nicht, worüber gesprochen wurde. Dennoch vermitteln die Fotografien, so wie die Dargestellten sich selbst präsentieren, die Künstlerin sie in Szene setzt und für ihre Repräsentation ausstellungswürdige Bilder auswählt, wesentliche Aussagen aus der jeweiligen Erzählung – die allerdings wiederum sprachlich nicht fassbar, also im Dialog der BetrachterInnen über die Fotos nicht verifizierbar sind. Sie sind sichtbar, nicht lesbar, sie sind erfahrbar, indem man sich zu ihnen in Bezug setzt, dieser Bezug ist jedoch vollkommen subjektiv. Für die Serie Rot ist es zum ersten direkten Dialog mit Anna Gaskell in einer künstlerischen Arbeit gekommen, die in einem roten Morgenmantel nach ihrer größten Verlassenheit befragt wurde. Ihre Erzählung kennen wir nicht, obwohl sie im Kontext ihres eigenen Werkes, das vielfach auf persönliche Erlebnisse rekurriert, spannend wäre. Aber sie bestätigt, vor allem in ihren jüngsten Videoarbeiten, ihre Offenheit für Dialoge mit anderen Künstlerinnen und setzt sich, ihr künstlerisches Vorgehen und Form und Inhalt der Kunstwerke in starken Bezug zu ihnen.
Neben der Arbeit mit und über die Tänzerin Svetlana Lunkina in & Juliet (2013), The Stronger (2014), Balletomane (2014) und Regarder la Mort (2014), in denen sich Anna Gaskell vollkommen in die ihr fremde Kunstform und den künstlerischen Ansatz Lunkinas hineinfilmt, hinein begibt, gilt dies für das Video Echo Morris (2014). Hier wirft sie einen Blick auf Werk und Leben der Künstlerin Sarah Morris. Die gleichzeitig intime wie scheinbar anonyme, fast kühle, oberflächliche Betrachtung der Kollegin kippt kontinuierlich aus der dokumentarischen Vermittlung, die sie reklamiert. Angesichts einer Konvergenz von Anna Gaskells filmischem Blick und Sarah Morris´ Arbeiten, Wohnen, Reisen, entsteht der Eindruck einer zu perfekten, einer inszenierten Dokumentation. Wüsste man es nicht, könnte man meinen, dass Sarah Morris einschließlich ihrer zu dem vermittelten Bild/Image passenden künstlerischen Produktion eine Erfindung von Anna Gaskell ist. Dennoch ist diese Wirkung wesentlich abhängig von dem spezifischen Ansatz von Sarah Morris, sie entsteht aus dem Dialog, auf den sich Anna Gaskell eingelassen hat und den sie mittels ihres Films und ihrer Bildsprache ähnlich reflektiert wie den – ebenfalls künstlichen – Dialog mit den Schauspielerinnen in Telling Stories.
Philip Auslander
Mia Unverzagts nicht so unschuldige Bilder
Mit „Ich weiß, was Jungs gefällt“ setzt Mia Unverzagt Untersuchungen fort, die sie in vorherigen Arbeiten begonnen hat, und geht gleichzeitig neue Wege. Wie in anderen Arbeiten, z.B. in Darüber reden wir noch aus dem Jahr 2008, entstehen ihre Bilder in einem Prozess, in dem die von ihr fotografierten Personen zu Performer*innen werden; dabei folgen sie einem losen Skript mit Anweisungen Unverzagts. Bei der aktuellen Arbeit hat Unverzagt ihre Performer*innen eingeladen, aus einem Sortiment von Hüten und Schals auszuwählen und Interviewfragen zu beantworten. Aus den Antworten wurden dann die Untertitel für die Fotoarbeiten ausgewählt. Auf diese Weise hatten die Frauen eine gewisse Kontrolle, sowohl über ihr Erscheinungsbild als auch über die Zitate, die mit ihnen verbunden werden. Allerdings war es letztlich doch Unverzagt, die die Inszenierung bestimmte, indem sie die Antworten aussuchte, die verwendet wurden, und außerdem aus Einrichtungsratgebern und Werbeanzeigen der 70er Jahre Bilder auswählte, die sie mit den Portraits zu Triptychen zusammenstellte. Die Künstlerin sieht ihre Arbeit im Zusammenhang mit den Features, die man bei DVDs im Bonusmaterial unter »Making-of« findet, wie beispielsweise Interviews mit den Schauspieler*innen. Für Unverzagt bewegt sich dieses Material auf der Grenze zwischen öffentlich und privat in dem Sinne, dass uns Bilder angeboten werden, die vorgeblich privat sind und uns zu zeigen scheinen, wie die Schauspielerinnen hinter den Kulissen wirklich sind, wenn sie nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Natürlich sind diese Szenen genauso inszeniert wie der Film selbst und erzeugen nur den Eindruck von Intimität. Auch die Lifestyleanzeigen aus den Einrichtungsratgebern bewegen sich auf dieser Grenzlinie, indem sie Wohnsituationen inszenieren, die sie als öffentlich verfügbare Modelle anbieten, gemäß derer wir unser privates Leben einrichten sollten. Unverzagts Interesse an der porösen Grenze zwischen öffentlich und privat war schon bei der Werkreihe Darüber reden wir noch offensichtlich. Auf den Fotos dieser Serie reden Menschen über emotional aufgeladene Themen, die zwar angedeutet, aber nie explizit benannt werden, da Unverzagt nur die Themen der Gespräche vorstellt, aber nie dokumentiert, was in den Fotoperformances selbst gesprochen wurde. Ich weiß, was Jungs gefällt unterscheidet sich erheblich von ihren vorherigen Arbeiten, da sie hierbei Zitate aus den Interviews mit ihren Darstellerinnen verwendet und als Untertitel in die Bilder einschreibt. In seinem berühmten Essay »Die Rhetorik des Bildes« von 1964 beschreibt Roland Barthes eine häufig vorkommende Beziehung zwischen dem sprachlichen Text einer Bildunterschrift und dem visuellen Gehalt eines Bildes und stellt fest, dass der Text das Bild verankert und so die möglichen Interpretationen des Bildes einschränkt, die sonst unkontrolliert wuchern würden. Dies geschieht in gewissem Maße auch bei Unverzagts Verwendung von Text. Die Fotografien allein könnten auf sehr unterschiedliche Weise gelesen werden, besonders da die Verwendung von stark gesättigten Farben und analoger Fotografie die neuen Bilder, die sie von den Darstellerinnen gemacht hat, mit den aus den Wohnratgebern der 70er Jahre entliehenen Bildern visuell vereinheitlicht (siehe bspw. im Winnie-Triptychon, bei dem das leuchtende Rot und Gelb alle drei Bilder miteinander verbindet.). Die Bildunterschriften jedoch forschen unter der glatten Oberfläche der Werbeanzeigen, um soziale Bedingungen einzubeziehen und unsere Aufmerksamkeit auf menschliche Beziehungen zu lenken, welche die Lebenswelten, in denen sie stattfinden, ebenso beeinflussen, wie sie von diesen beeinflusst werden. Die Bildunterschriften legen verschiedene solcher Beziehungen nahe, unter anderem die zwischen Männern und Frauen (Sofie: Und er fand die Geschichte eigentlich nur lustig, und ich fand sie überhaupt nicht lustig.) wie auch die Interaktionen zwischen Unverzagt und ihren Protagonistinnen (Anke: Also ich kann irgend’n Quatsch erzählen, du wählst dann am Ende sowieso aus?!). Diese Verankerung geht allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Da die Zitate fragmentarisch sind, aus ihrem ursprünglichen Interviewkontext abstrahiert wurden und auch nicht mehr auf die Erfahrungen der Schauspielerinnen bei der Arbeit an einem Film verweisen, sind sie nur noch Vorschläge und legen letztlich keine eindeutige Interpretationsebene nahe. Dies wird auch deutlich, wenn wir über die Beziehung der Bilder zu dem Titel der Arbeit nachdenken, der auf einen recht erfolgreichen New-Wave-Song der frühen 80er Jahre zurückgeht. Unweigerlich lenkt der geliehene Titel unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass alle fotografierten Personen weiblich sind, aber was bedeutet das hier? Wissen sie oder interessiert es sie, was Jungs gefällt? Im Song behauptet die Sängerin zynisch, dass ihr Wissen über Männer es ihr erlaubt diese zu manipulieren. Was sollen wir aus dieser Haltung im Hinblick auf die Frauen auf den Fotografien ableiten, die so viel komplexere und weniger anmaßende Einschätzung ihrer Interaktionen mit anderen haben? (Johanna: Mir war die Geschichte selber so unangenehm, dass ich mich eigentlich fremdgeschämt habe.) In jedem Triptychon zeigt das Mittelteil ein Wohninterieur. Ein Hintergrundbild mit einem Vorhangdesign erscheint entweder rechts oder links, vor dem, auf der jeweils anderen Seite, die Schauspielerinnen abgebildet sind. (Es gibt zwei Ausnahmen: Evy und Johanna werden jeweils auf beiden Bildern gezeigt, die das Mittelteil flankieren; die Vorhänge im Hintergrund sind je nach Fotografie unterschiedlich auffällig.) Diese kompositorische Strategie platziert die Frauen auffällig außerhalb der perfekt gestalteten Wohnwelten, die die anderen Bilder nahelegen, und positioniert sie als potentielle Kommentatorinnen dieser Welten. Dieser Effekt wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Frauen über die unvermeidlichen Spannungen zwischen Menschen zu sprechen scheinen, die in den Bildern der besänftigten Wohnwelten zum Verschwinden gebracht worden sind, von denen nur einige wenige tatsächlich die Bewohner*innen der Räume zeigen. Das wiederholte Erscheinen eines leuchtend roten Stuhls, des Metallrahmens, an dem der Fotohintergrund befestigt ist, von Kostümelementen und ausgewählten Requisiten auf verschiedenen Fotografien erinnert ständig daran, dass die Lifestylebilder sich zwar als »unschuldig« präsentieren – ganz im Einklang mit dem Begriff, den Barthes benutzt, um zu beschreiben, wie Fotos als objektive Darstellungen der Realität verstanden werden können – die Bilder Unverzagts jedoch offenkundig konstruiert und inszeniert sind und ihre Künstlichkeit offengelegt wird. Roland Barthes hat sich mit dem Umstand beschäftigt, dass die scheinbare Unschuld der Fotografie, die implizite Botschaft, dass es »so gewesen ist«, dazu führt, dass das Dargestellte als natürlich angesehen wird und so eine große rhetorische Kraft entwickelt. Unverzagt fordert diese Rhetorik der Fotografie heraus, indem sie Lifestylebilder aus den 70er Jahren auswählt; einer Zeit, die noch nahe genug an unserer ist, um uns vertraut zu sein, aber doch so weit entfernt, dass uns die Bilder ein wenig unnatürlich und fremd erscheinen in ihrer Darstellung davon, wie unser Leben aussehen sollte. Die Zusammenstellung dieser Bilder mit denen der Performerinnen, die zwar einerseits visuell die Wohninterieurbilder fortführen, sich aber andererseits von ihnen durch ihre Stellung innerhalb der Tryptichen ebenso abheben, wie durch ihre offensichtliche Inszenierung und die Tatsache dass die Frauen sprechen (im Gegensatz zu den stummen oder abwesenden Personen in den Wohninterieurbildern), macht deutlich, dass, was immer Fotografie ist, sie niemals unschuldig ist.
Literaturhinweis:
Roland Barthes, »Die Rhetorik des Bildes«. Bild Musik, Text. Übersetzt von Stephen Heath. London, Fontana Press, 1997, S. 32 – 51
Ludwig Seyfarth
Wer alles richtig macht, macht alles falsch
Messen, Wiegen und andere Handlungsanweisungen in der Kunst von Mia Unverzagt
In einer Ausstellung von Mia Unverzagt sollte immer alles seine Ordnung haben. Als ich zusammen mit der der Künstlerin ihre Schau im Künstlerhaus Göttingen ins Visier nahm, mit einem durch meine eigene kuratorische Tätigkeit hoffentlich geschulten Blick, hatte ich auch fast gar nichts zu bemängeln, außer im hinteren Raum links auf der rechten Wand. Ich sagte kurz und deutlich: „Das Bild hängt schief“, aber Mia hörte mich nicht, weil sie gerade nicht neben mir stand. Ich hatte auch nicht wirklich vor, die Korrektur dieses Fehlers zu empfehlen, und vielleicht hätte Mia auch sofort bemerkt, dass die Formulierung meines Kritikpunktes bewusst so gewählt war, um sie als Zitat kenntlich zu machen. Denn „Das Bild hängt schief“ beteuert Loriot in einem seiner brillantesten Sketche, nachdem er in die Einrichtung eines Zimmer, in dem er auf einen Termin wartete, in einen Zustand totaler Verwüstung gebracht hat. Der gut gemeinte Versuch, ein an der Wand hängendes Gemälde richtig auszurichten, löste eine verhängnisvolle Kettenreaktion aus. So etwas wollte ich nicht riskieren und rührte das nicht ganz gerade ausgerichtete Bild lieber nicht an. Besser alles andere hat seine Ordnung und ein Foto hängt ein klein bisschen schief. Dass die Ausstellung von Mia Unverzagt bei mir sofort Erinnerungen an den bekanntesten deutschen Humoristen seit dem Zweiten Weltkrieg weckte, scheint mir kein Zufall zu sein. Hat doch Loriot wie kein anderer die mitunter gewisse Steifheit von uns Deutschen und einen übertriebenen Korrektheits- und Ordnungssinn aufs Korn genommen, der dazu führen kann, dass zwei bis dahin gut befreundete Familien sich bei einem gemeinsamen Essen im Restaurant unrettbar darüber entzweien, dass der nur noch einmal statt zweimal servierbare Kosakenzipfel nicht ganz brüderlich korrekt aufgeteilt wurde, denn auf einmal ist das oben auf ihm liegende Zitronenbällchen nicht mehr da. Loriots Humor steht auch historisch genau für die Zeit, in der Mia Unverzagt geboren wurde. Die noch von großen Teilen der Nachkriegsgeneration getragenen guten alten Werte von Recht und Ordnung waren zwar noch vielerorts wirksam, wurden aber von den 68ern radikal in Frage gestellt. Für die gute alte Zeit stehen auch zahlreiche von der Künstlerin zusammengetragene Lehrbücher mit Schautafeln und Anweisungen, wie man etwas ordentlich und richtig macht. Hier wird der Vergleich von Ordnung und Unordnung anschaulich vor Augen geführt oder ein grafisches Schaubild zeigt uns, wie die verschiedenen Utensilien korrekt in den Werkzeugschrank einzuordnen sind. Wenn Mia Unverzagt solch eine Darstellung in eine Stickerei überträgt, wirkt das wie eine Strafarbeit, die einem das richtige Sortieren noch einmal so richtig in den Schädel einprägen soll. Stick-, Strick- und Häkelarbeiten galten einst als typisch weibliche Tätigkeiten, und in der Schule wurde die ansonsten weitgehend aufgehobene Geschlechtertrennung weitergeführt, wenn die Mädchen einen Handarbeitsunterricht bekamen und die Jungs „werken“ duften, als ob man dort seine Hände nicht benutzt... Nicht zuletzt als ironische Volte gegen das Nicht-Ernst-Nehmen von Frauen in einer noch von Männern dominierte Kunstwelt führte Rosemarie Trockel in den 1980er Jahren das feminine Stricken offensiv in die „große Kunst“ ein. Gleichzeitig wird die „große Kunst“ ironisch auf den Boden alltäglicher Tatsachen heruntergezogen. Dies geschieht bei Mia Unverzagt, wenn sie aus einer Darstellung des Fiebermessens eine Metallskulptur herstellt, die eine Ähnlichkeit zwischen den Lehrbuchdarstellungen der Nachkriegszeit und damaligen Formen abstrakter Kunst suggeriert. Mit ihrem Sinn für die absurden Abgründe alles Gründlichen und Ordentlichen wählte Mia Unverzagt für eine ihrer Stickereien auch ein Motiv aus, das in dieser Form nur noch surreal wirkt. Die Vorführung dessen, was man beim Fotografieren alles falsch machen kann, lässt sich kaum noch veranschaulichen, wenn die falsch gewählte Belichtung oder der Farbstich als bunte Fläche auf einem weißen Tuch erscheint. Versteht man aber dennoch, was uns die Schautafel zu lehren versucht, und betrachtet dann die großen Fotografien, die wir in fast allen Räumen dieser Ausstellung sehen, scheinen sie uns konsequent fast alle Fehler vorzuführen, die man als ordentlicher Fotograf vermeiden sollte. Die Motive sind unscharf, die Ausschnitte schlecht gewählt, die Personen angeschnitten, und vor allem bleibt ohne weitere Erläuterung völlig im Unklaren, was die auf den Fotos ihnen abgebildeten, blaue Kittel tragenden Menschen überhaupt tun. Es handelt sich um eine Reihe von Fotoperformances, zu der Mia Unverzagt verschiedene Menschen, so Studenten der Bremer Kunsthochschule, ihren künstlerischen Assistenten und eine ihrer Töchter eingeladen hat. Im Fall von „MESSEN – WIEGEN - ORDNEN“ handelt es sich um einen Raum, in dem sich neben Bergen von Kleidungsstücken, Stoffen und Dingen auch eine größere Anzahl von Gegenständen und Instrumenten befindet, die man zum Messen und Wiegen verwenden kann. Nach dem die Teilnehmer_innen sich aus einer überschaubaren Menge von Hauskleidern aus den 1940-70er Jahren etwas ausgewählt haben, was sie tragen wollen, hat die Künstlerin sie gebeten, die im vorbereiteten Raum vorhandenen Dinge zu messen, zu wiegen und zu ordnen. Außer den Rahmenbedingungen, die die Künstlerin gesetzt hat, gab es jedoch keine Anweisungen, was genau in diesem Zeitraum zu tun war. Dabei hat Unverzagt ihre Mitspieler_innen während mehrerer Stunden mit einer analogen Spiegelreflexkamera begleitet. Aber was ist überhaupt eine „Fotoperformance“? Unter einer Performance versteht man gemeinhin eine künstlerische Aktion, die vor einem Publikum stattfindet und die für die Nachwelt eventuell fotografisch oder filmisch dokumentiert wird, wie etwa viele der Aktionen von Joseph Beuys, von denen wir ansonsten nur vom Hörensagen wüssten. Aber es gibt auch Performances, die ohne Publikum stattfinden, so dass außer en Künstlern selbst und den direkt Beteiligten niemand das direkte Ereignis erlebt hat, sondern die filmische Dokumentation das eigentliche Kunstwerk ist, das dem Publikum vorgeführt wird. Dies gilt für zahlreiche Selbstinszenierungen, die Bruce Nauman oder Vito Acconci um 1970 ganz allein in ihren Ateliers machten und auf Video festhielten. Bei Mia Unverzagts Fotoperformances kann es schon mal Publikum geben, etwa wenn sie Männer, die geblümte Kittelschürzen aus der ehemaligen DDR tragen, an Führungen in Bremer Museen und Ausstellungshäusern teilnehmen lässt und das fotografiert. Doch diese Aktionen, auf denen Mia Unverzagts Beitrag zur Sonderausstellung des Bremer Kunstfrühlings 2014 basierte, wurden dem Publikum nicht angekündigt. Sie waren gleichsam nur das Material, das dann für die Ausstellung der Fotografien verarbeitet wurde. Ähnlich verhält es sich hier. Dass die „Dokumentation“ der Aktion eigentlich fotografisch verunglückt erscheinen mag, ist natürlich Absicht. Denn dass wir eigentlich keinerlei „verwertbare“ Information darüber erhalten, was die Personen genau tun, hat damit zu tun, dass die Fotos nicht den “richtigen“ Rahmen liefern. Und wenn sie es zu tun scheinen, werden unsere Neigung an der Nase herumgeführt, bei nebeneinander hängenden Fotos automatisch räumliche Kontinuitäten herzustellen. Direkt neben den Bildern der Performances hängen Fotos von Räumen, auf denen keine Menschen zu sehen sind. Es handelt sich allerdings um ganz andere Räume, die nichts mit dem Schauplatz der Performance zu tun haben. Eine Fotografie bildet die Welt nicht automatisch ab, sondern was es zeigt, hängt von der Wahl des „richtigen“ Standpunktes, der richtigen Tiefenschärfe und des richtigen Ausschnitts ab. Ansonsten fällt das Bild im wahrsten Sinne des Wortes „aus dem Rahmen“, und das gilt nicht nur formal, sondern auch sozial. Der Frage, wie unser Leben und die Gesellschaft, in der wir leben, von sozialen Regeln und Rahmen geprägt ist, geht Mia Unverzagt in ihrer Kunst immer wieder nach. Es ist eine Frage, die auch Gegenstand vieler wissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist. Etwa haben amerikanische Soziologen wie Erving Goffman und Richard Sennett untersucht haben, wie Rahmen „frames“ oder Skripte unser Sozialverhalten prägen und regeln. Die ordnenden „Drehbücher“ für den Film des Lebens sind nicht mehr die gleichen wie in den 1960er Jahren. Die Belehrungen von damals kommen uns heute antiquiert und lächerlich vor. Aber Mia Unverzagt stellt uns mit ihrer Vorführung implizit auch die Frage, ob die Anweisungen, die unser Leben heute regeln, nicht genauso klischeehaft und strikt sind, nur dass wir uns dessen oft nicht bewusst sind. Wir fallen aus dem sozialen Rahmen, wenn wir politisch nicht korrekt sind. Wir werden in jedem Hotelzimmer freundlich belehrt, dass das zu häufige Waschen von Handtüchern die Umwelt unnötig belastet. Und als Nichtraucher freue ich mich zwar über rauchfreie Kneipen, finde es aber trotzdem absurd, dass Raucher ständig darüber belehrt werden, wie schädlich ihr Laster ist und dass es zum Tode führen kann, als ob sie es nicht selbst wüssten und trotzdem rauchen. Wer nicht ökologisch korrekt lebt und nicht genug auf seine Gesundheit achtet, ist schließlich selbst schuld. Eine politisch korrekte Gesellschaft lehnt jede Verantwortung für ihn ab. Die Regeln, denen man sich anzupassen hat, sind jedenfalls nicht lockerer als früher. Und wer sich den Regeln der 68er-Elterngeneration widersetzen möchte, wird am besten das, was in deren Lebensrahmen die größte Unordnung darstellt: nämlich ein bürgerlicher Spießer zu sein. Das, was man als Ordnung oder Unordnung empfindet, ist also immer auch eine Frage des Standpunktes. Und vielleicht hängt nicht das Bild schief, sondern der Betrachter, der es gerade rücken will, liegt mit allem schief, denn das Resultat seiner Handlung versetzt alles in Unordnung. Diese „Botschaft“ steht hinter Loriots kleinem Sketch, aber auch hinter Mia Unverzagts gesamtem künstlerischem Universum.
Sebastian Neußer
Es geht nicht nur ums Ganze
Die bildende Kunst verbindet aktuell ein Merkmal, das in seiner Radikalität Ergebnis der Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts ist. Egal ob Malerei, Zeichnung, Fotografie, Skulptur oder Performance - man gibt sich weitestgehend unpolitisch und jeder Versuch der kritischen Bezugnahme wird als rückständige Haltung abgestraft. Provokation ist willkommen, aber bitte keine Politik, denn das ist Kitsch, so scheint das derzeitige Diktum zu lauten. Im 20. Jahrhundert folgte eine Avantgarde auf die nächste und jeweils von neuem galt alle Anstrengung der Befreiung aus alten Fesseln. Ständig operierte man im Dienste wechselnder Interessen. Inzwischen aber genießt die Kunst eine Autonomie, die vehement verteidigt wird. Keinesfalls sollte der schwere Schimmer einer persönlichen Überzeugung die glatte Oberfläche des politisch orientierungslosen Werks trüben. Die Künstler/innen bemühen sich vor diesem Hintergrund meist unbeholfen, die Eigendynamik ihrer Werke anzupreisen und neben ihnen zu verstummen. Nach anfänglicher Euphorie macht sich spürbare Ernüchterung breit. Es beginnt die Suche nach Sinn, Relevanz und der Beziehung zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität.
Zynismus und Ironie boten noch in den 1980er Jahren die Möglichkeit, sich durch die Hintertür und unter dem Deckmantel der subversiven Unterwanderung einem Thema zu nähern. Diese künstlerischen Strategien erlaubten es, wenn auch ein wenig verschämt, Position für oder gegen etwas zu beziehen, doch sie haben ausgedient. Die Kunst ist vielerorts harmlos geworden – sie schadet weder sich selbst, da sie vom nichtkommerziellen Off-Space bis zum konzernfinanzierten Großmuseum universal einsetzbar ist, noch schadet sie anderen, da sie sich der allzu deutlichen Stellungnahme entzieht. Jutta Held erkannte die durchaus missliche Lage des ehemals revolutionären Mediums und stellte fest, dass die politische Stellungnahme und sogar der Bezug auf politische Ereignisse heute als Ausdruck künstlerischer Naivität gewertet werden. Durch die Formulierung einer Gegenposition zum kapitalistischen Status Quo, so ihr Resümee, gibt sich die Kunst der Lächerlichkeit preis.[i]
Der Titel Es geht nicht nur ums Ganze ist in leicht gewandelter Form einer Schrift Herbert Marcuses entliehen, die Ende der 1960er Jahre die Sozial- und Kulturwissenschaften intensiv beschäftigte.[ii] Seine kritische Betrachtung der Gesellschaft bezieht sich auf die Gesamtheit der Individuen, Gruppen und Institutionen, auf ihre Funktionsweisen, ihre Geschichte und vor allem die vielschichtigen Interaktions- und Konfliktprozesse – es ging ihm ums Ganze. Sozialer Wandel, so seine Argumentation, wird systemisch verhindert, da politische Bedürfnisse der Befriedigung des ökonomischen Gemeinwohls untergeordnet sind. Fast möchte man daran erinnern, dass die Kunst auf eine lange Geschichte der politischen Auseinandersetzung zurückschaut, das jedoch offensichtlich mit gemischten Gefühlen. Mia Unverzagts künstlerische Arbeiten lassen sich einerseits in der Tradition einer kritischen Theorie der 1960er Jahre verorten und aktualisieren andererseits feministische Ansätze, die insbesondere in den 1970er Jahren prägend waren. Ihre fotodokumentarischen Projekte, inszenierten Fotoarbeiten, Zeichnungen und Rauminstallationen verbindet der Versuch, gesellschaftliche Bruchstellen zu visualisieren, den Blick auf die Irrationalität des Ganzen zu richten und die Konventionen der fotografischen Bilder zu testen. Mit ihrer explizit kritischen Herangehensweise weigert sich die Künstlerin, einfache Rezeptionsmuster zu bedienen und den Status quo als gültigen Zusammenhang zu akzeptieren. Konfrontationen, Bewusstmachung und die Aufdeckung lähmender Strukturen stehen dabei im Vordergrund.
Ihre Kunst bekennt sich zu einer politischen Funktion und versucht, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen dem Gegebenen und dem Möglichen zu schärfen. Der Schein des schönen Bildes wird attackiert: Die Künstlerin nutzt eine analoge Kleinformatkamera, deren Aufnahmen eine Körnigkeit auszeichnet, die den Produktionsprozess ins Bewusstsein ruft. Auf digitale Bearbeitungen oder aufwendige Ausleuchtungen wird verzichtet. Nicht selten zerschneidet, perforiert, bestickt oder beklebt sie die Abzüge und präsentiert diese ungerahmt, um der fotografischen Materialität Ausdruck zu verleihen. Sie beleuchtet auf manchmal verstörende Weise den scheinbar glatten Ablauf des Ganzen. Besondere Bedeutung hat für sie das individuelle Gefangensein in persönlichen, familiären, geographischen, geschlechtsspezifischen und nationalen Präformierungen. Mit ihrer kritischen Kunst hinterfragt sie den Zustand des Menschen in unserer Gesellschaft; dabei führen Ihre Fotografien weder Momente des individuellen Niedergerungenseins vor Augen, noch geben sie didaktisch Wege der Befreiung vor. Ihr Interesse gilt den Regungen des Widerstands, die einen Blick auf bestimmende Strukturen ermöglichen. Für Jacques Rancière ist Kunst im revolutionären Sinn „widerständig“, wenn sie mit Blick auf ein Ende arbeitet, das sie nicht selbst erreichen kann und mit Blick auf ein Volk, das noch fehlt.[iii] Versucht Kunst, gesellschaftliche Problemlösungen vorzugeben, so versucht sie, Politik zu imitieren und ist zum Scheitern verurteilt, da die eigenen Möglichkeiten verkannt werden. Gerade der unbestimmte Moment des Auflehnens transportiert eine Kraft zur Neuorientierung, die für die Transformation der eigenen Wirklichkeit genutzt werden kann. „Zu sagen, dass die Kunst widersteht bedeutet also, dass sie ein ständiges Versteckspiel zwischen der Kraft der sinnlichen Äußerung der Werke und ihrer Bedeutungskraft ist.“[iv]
Die Blumen ohrfeigen (2010)
Unsicher schaut die Frau in die Kamera; ihr zaghaftes Lächeln überspielt kaum das Unwohlsein in der eigenen Haut. Der Entschluss zu einem wenig alltäglichen Vorhaben wurde getroffen und nun gilt es, die Sache erhobenen Hauptes durchzuziehen. Der Plan sieht vor, das Alpenveilchen in rosafarbener Blüte und Zierübertopf zu schlagen, doch dezenter Goldschmuck an Hals und Ohren sowie ein farblich zum Projekt abgestimmtes Twin-Set lassen vermuten, dass in diesem Wohnzimmer mit Schrank-Vitrinen-Kombination in „Eiche rustikal“ Gewaltausbrüche gegen Mensch, Tier oder Grün nicht zum guten Ton gehören. Pflanzen, wie auch die Stickereien der ordentlich gelegten Tischdecke zu erkennen geben, schmücken Heim und Garten und sind Zeichen einer liebevollen Hand, die den manchmal tristen Alltag zu erhellen weiß. Fast zärtlich umsorgt der grüne Daumen die heimische Flora und verschwendet keinen Gedanken an verlorene Zeit und Mühen.
Man möchte es hübsch haben, um sich nach getaner Arbeit an der Wohnlichkeit der eigenen vier Wände zu erfreuen. Nur der stete Einsatz, so weiß man, garantiert nachhaltig erfolgreiche Haushaltsführung. Das Alpenveilchen ist traditionell der Deutschen liebstes Blumenkind, auch wenn die Orchidee ihm seit einigen Jahren den Rang abläuft. Die günstige und pflegeleichte Zier des Kaffeetisches ist mit ihrem hochalpinen Namensvetter kaum noch verwandt, denn nur die scheinbar schönsten und vor allem widerstandfähigsten Züchtungen sind den harten Bedingungen des Alltags gewachsen. Die Ökonomie des modernen Lebens verlangt Gewächs, das Zimmertemperaturen um die 20 Grad mag, mäßigen Sonnenschein bevorzugt und hin und wieder auch ein verlängertes Wochenende in Trockenheit übersteht.
Die Blume erscheint als Alter Ego der Eigenheimbewohnerin, der als kleines Mädchen sicher auch diese oder andere Veilchen-Weisheiten in das wie einen Schatz gehütete Poesiealbum geschrieben wurden: „Sei wie das Veilchen im Moose, bescheiden, sittsam und rein und nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein.“ Für Herbert Marcuse sind die Bedürfnisse der modernen Konsumgesellschaft „falsche Bedürfnisse“, deren Befriedigung im Überfluss zu einer „Euphorie im Unglück“ führt.[v] Glück, Unglück, Freude, Entspannung, Liebe und Hass erfolgen nur im Einklang mit bürgerlichen Maßvorgaben und jede Abweichung wird gesellschaftlich geahndet. Die Schläge der Frau widersprechen nicht etwa herrschenden Wertvorstellungen, weil Gewalt grundsätzlich kein probates Mittel wäre. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Gewalt sich in diesem Fall einen Weg außerhalb der gesellschaftlichen Logik sucht. Das Ohrfeigen der Blume ist nicht bloß sinnloser Akt der Zerstörung, sondern erweckt Unbehagen, da es den Frieden bürgerlicher Konfliktfeindlichkeit stört.
Du wartest bis du gerufen wirst (2010)
Auf den ersten Blick ist alles beinahe so, wie man es sich in Kindertagen erträumte: die Villa Kunterbunt mit der hölzernen Veranda, bewohnt von Pippis Schimmel, dem man in der späteren Verfilmung Flecken auf das Fell sprühte und ihn „kleiner Onkel“ nannte; Tommy und Annika, die wieder einmal auf Besuch dem liebevollen Spießbürgertum des eigenen Elternhauses entfliehen; ein romantisch verwilderter Vorgarten, der an laue Sommerabende in Schweden erinnert und Tante Prüsseliese, die in verlässlicher Regelmäßigkeit das anarchistische Idyll stört, um Pippi bzw. Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf der Obhut des städtischen Kinderheims zu unterstellen. Doch dieses Haus in tristem Grau erinnert nur an eine Sehnsucht nach der weltbekannten Immobilie aus Astrid Lindgrens Kinderbuch. Die Fenster sind teilweise vernagelt, die Balken ein wenig zu morsch und an der rückseitigen Grundstücksgrenze stört ein roter Backsteinbau in Neubaunorm das Bild. Das Ganze ist nur Fassade und Kulisse, vor der ein Mädchen und drei Jungen in bemühter Verkleidung gelangweilt, wortlos und ernüchtert versuchen, den Schein des Ideals zu wahren.
Man vermisst die sorglose Leichtigkeit der literarischen Quelle, die Pippi Langstrumpf zu einem der beliebtesten Kinderbücher machte. Dieser Erfolg kam nicht von ungefähr, wurde doch die Realität des gewöhnlichen Kinderalltags auf den Kopf gestellt. Pippi lebt oder haust allein, wenn man den bürgerlichen Wertmaßstäben folgt. Sie besitzt Pferd, Affe, einen großen Goldschatz und ist zudem stärker als all ihre erwachsenen Widersacher. Niemand, der ihr Vorschriften machen könnte, da die Mutter tot und der Vater weit entfernt König in der Südsee ist. Ihre Welt ist ein Gegenbild zur starren, patriarchalen Gesellschaftsordnung, in der Väter einem geregelten Beruf nachgehen, Mütter für Heim und Kinder sorgen, Kinder dazu erzogen werden, gute Väter und Mütter zu werden und die Wahrung des schönen Scheins oberste Maxime ist. Es gibt wohl kaum ein Kind, dem nicht die Maßregelung der Eltern oder Lehrer vertraut ist, zu warten, bis man gerufen wird. Für beide Seiten ist es ein beschwerlicher Weg, die kindlichen Impulse zu formen, bis sie passgenau den gesellschaftlichen Rahmen füllen. Nach einem langen Tag der Ge- und Verbote liest man dem Nachwuchs widersinnigerweise vor dem Schlafen die Geschichte der unbeugsamen Kapitänstochter vor und präsentiert ein scheinbares Gegenbild zur gelebten Moral. Bei genauer Betrachtung steckt in Pippi jedoch eine gehörige Portion Bürgerlichkeit. Zwar lebt sie allein, doch verliert sie sich nicht im Chaos, da die frohen Putzorgien mit Bürsten an den Füßen zu ihren Lieblingsbeschäftigungen gehören. Alles funktioniert, wenn auch auf manchmal etwas unkonventionelle Weise, reibungslos und immer noch im gesellschaftlichen Rahmen. Ihre Freiheit verdankt sie nicht zuletzt dem Goldschatz des liebevollen Vaters, dem niemand böse zu sein scheint, dass er für die Kariere in der Ferne seine Tochter ihrem Schicksal überlässt. Kaum einer hätte Verständnis für eine Mutter, die ihr Kind zurücklässt, um Königin in der Südsee zu sein. So musste sie sterben, um die Geschichte mit der brüchigen Moral zu versöhnen, die den jungen Leserinnen und Lesern vermittelt werden soll. Die inszenierte Entmystifizierung der heilen Welt von Pippi, Tommy und Annika erinnert daran, dass einseitige Idealisierungen gesellschaftlicher Entwürfe kein probates Mittel sind, Konflikt und Widerspruch als notwendige Aspekte des Zusammenlebens zu eliminieren.
¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! (2009)
Das Hadern mit der Macht fremdbestimmter Prägung thematisiert die Zeichnung ¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! (2009). Ist das schön! Ist es gefährlich? - Natürlich! lautet der Titel, der eine Laien-Grundrisszeichnung begleitet. Die Organisation des Wohnraums richtet sich in modernen Gesellschaften nicht vornehmlich nach den persönlichen Bedürfnissen der Bewohnenden, sondern nach den Maßgaben eines möglichst effizienten Tagesablaufs. Lebensraum, der unbestimmte Freiräume vermissen lässt, ist zur bloßen Grundlage produktiver Wertschöpfung degradiert. Leben in normierten Wohneinheiten wird allgemein nicht als schwerwiegende Beschneidung des persönlichen Freiraums wahrgenommen. Das wahre Bild unserer Gesellschaft, so Marcuse, ist ein „circulus vitiosus“; ein Teufelskreis, in dem sich alles von allein in zuvor festgelegter Richtung erweitert und genau diejenigen Bedürfnisse produziert werden, die Gesellschaft in der bestehenden Form befriedigen kann.[vi] Architektonisch äußert sich dieser Umstand darin, dass die überwältigende Mehrheit der Grundrisse für Wohnraum absolut vergleichbar ist. Küche, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer und Bad geben nicht nur den engen Rahmen der Nutzungsmöglichkeit vor, sondern prägen auch die tief verwurzelte Vorstellung einer statistisch angemessenen Familiengröße von 3,3 Personen. Wirkliche Wahlmöglichkeit scheint nur noch bei der familiären Ergänzung durch Hund, Katze oder Goldfisch zu bestehen, wenn nicht der Wohnungsmietvertrag selbst die Kleintierwahl regelt. Obwohl sich die Lebensentwürfe in den letzten Jahrzehnten entscheidend geändert haben, sehen die Grundrisse noch immer aus, so die Süddeutsche Zeitung, als säße die gesamte Nation weiterhin samstags gemeinsam auf dem Sofa, um „Wetten dass...?“ zu sehen.[vii] Bei der Zeichnung ¡Esta Bonito! ¿Es peligroso? – ¡Como no! überlagern konturlose Aquarellfarben die klaren Formen des Grundrisses. Der Farbeinsatz durchbricht Umrisse und Abgrenzungen und steht als Ausdruck individueller Energie für die ungenutzten Kapazitäten des in seine Schranken gewiesenen Menschen. Starre Ordnungen und sanktionierte Schönheitsideale sind nicht harmlose Neigungen des individuellen Geschmacks, sondern werden dann zur Gefahr, wenn sie den Blick für das Wesentliche trüben.
Kittelschürzen (2007)
Die Fotoserie Kittelschürzen zeigt eine Frau mittleren Alters, gekleidet in Hausschuhe und Kittelschürze, im Umfeld einer sonst leeren Wohnung. Die farbfrohen Muster ihrer häuslichen Bekleidung korrespondieren in seltsamer Weise mit den sie umgebenden Mustertapeten. Hartmut Wagner schrieb zu dieser Arbeit: „Bildet sie mit ihrer Küchenschürze einen Teil ihres eigenen Hintergrundes? Befindet sie sich inmitten einer Metamorphose, die sie von einem dreidimensionalen Menschen zu einem in die Tapete integrierten zweidimensionalen Phänomen mutieren lässt? [...] Das zum Bild minimierte menschliche Individuum verschwindet, der Mensch als Subjekt wandelt sich zum Objekt in einem leeren Raum.“[viii] Die Leere der Wohnung betont die heimische Normierung und Funktionalisierung der Frau als Hausfrau. Sie ist ganz und gar Teil eines Herrschaftssystems, in dem Bequemlichkeit, Ordnung und Sättigung als unwiderlegbare Beweise des allgemeinen Wohls gelten. Für die kritische Theorie der 1960er Jahre bestand die reine Form der Knechtschaft des Menschen darin, als Instrument und Ding zu existieren. Die Tatsache, dass das belebte Ding sein Dingsein nicht einmal empfindet, wenn es als „ein hübsches, sauberes, mobiles Ding“ existiert, wurde als Zeichen der erschreckenden Abstumpfung gewertet.[ix] Die Hausfrau von heute scheint weit davon entfernt zu sein, sich morgens in ihre geblümte Schürze zu kleiden, um das Frühstück für Ehemann und Kinder in der passend tapezierten Küche zu bereiten. Mitleidig schaut man auf die 1950er Jahre zurück und ist darüber erleichtert, dass mit Designer-Outlet und Ikea heute alles besser als früher ist. Im Kern jedoch hat sich wenig geändert, da individuelles Denken und Wünschen weiterhin im hohen Maße gesellschaftlich bestimmt werden. Der Mensch hastet ermattet seinem selbst geschaffenen Warenparadies hinterher und bemüht sich, so gut es geht, in der Makellosigkeit seiner Umgebung nicht allzu negativ aufzufallen. Das Leben in der Kittelschürze ist eben nicht nur eine Frage der Kleidung.
Sich um die Pilze kümmern (2010)
Sich um etwas oder jemanden kümmern resultiert aus einem Gefühl der Sorge, dass ohne Zuwendung ein Zustand stagnieren oder sich gar verschlechtern könnte. Kinder und Haustiere sind klassische Empfänger des selbstlosen Beistands. Auch hört man nicht selten von Menschen, die sich um Wäsche, Haare oder gar Fußnägel kümmern wollen. Altruistischen Kummer deutet man allgemein als positiven Charakterzug in einer Welt, die zunehmend egoistischer zu werden scheint. Undankbar sind jene, die fremde Hilfe, selbst wenn sie ihnen ungebeten zuteil wird, nicht zu schätzen wissen, oder diese gar ablehnen – schließlich wollte man nur helfen und das kann nicht verkehrt sein.
Allein in einem abgelegenen Waldstück befindet sich der nur in einen OP-Kittel gekleidete Mann bei Sich um die Pilze kümmern und schenkt gedankenversunken seine ganze Aufmerksamkeit den Pilzen des Waldes. Sorgsam prüft er den Gesamtbestand und widmet sich besorgt einzelnen Exemplaren, die entweder etwas abseits stehen oder ihm besonders pflegebedürftig erscheinen. Obwohl keimfreie Bekleidung bei der Arbeit am Waldboden wenig Sinn ergibt, tritt seine merkwürdige Aufmachung in den Hintergrund der Aufmerksamkeit: Der Kittel harmoniert farblich mit den dichten Moosflächen und Blättern und zudem erinnert sein bedachtes Vorgehen an den gezielten Eingriff eines versierten Mediziners. Wie auch bei medizinischen Behandlungen bleibt das Ziel des Einsatzes dem Laien nicht selten verborgen - gesammelt wird hier jedenfalls nicht. Obwohl Pilze häufig zur Familie der Pflanzen gezählt werden, sind sie tatsächlich viel enger mit den Tieren verwandt. Nur die überirdischen Fruchtkörper fallen ins Auge, doch der größte Teil des Pilzes wächst unterirdisch. Dort wuchert manchmal ein riesiges Pilzgeflecht, dessen Größe anhand der überirdischen Auswüchse nur erahnbar ist. Die ungewöhnliche Sorge des Mannes um die zurückgezogen lebenden Pilzkolonien, die wahrscheinlich größtenteils noch nicht einmal genießbar sind, wirft Fragen darüber auf, welche Handlungen allgemein als nützlich und gewinnbringend anerkannt sind. Pilze sammelt man, um sie zu essen, im Wald läuft man, um sich fit zu halten, den Garten pflegt man, um einen gepflegten Garten zu haben – ein Verlassen dieser vorgegebenen Pfade ist gesellschaftlich weder gewünscht, noch wird es ohne Weiteres geduldet, da es das sichere Gerüst unserer Vorstellung von Welt ins Wanken bringen könnte.
Darüber reden wir noch (2005-2009)
Die Fotoperformance Darüber reden wir noch, die an verschiedenen Orten und auf verschiedenen Kontinenten realisiert wurde, besteht aus Portraits von Menschen, die sich im Gespräch mit sehr privaten Gefühlen auseinandersetzen. Für diese persönlichen Bereiche bieten gesellschaftliche Konvention und Prägung kaum Artikulationswege und so zeigen Mimik und Gestik, wie stark das Ringen mit tabuisierten Themen selbst körperlich belastet. Nachdrücklich demonstriert die Arbeit, dass auch individuelles Denken, Hoffen und Fürchten, wie es Marcuse einmal ausdrückte, gesellschaftlicher Bestimmung unterliegen.[x] Das Betrachten der Arbeiten weckt, obwohl die Inhalte der jeweiligen Gespräche nicht vermittelt werden, ein tiefes Verständnis für die Prozesse der Auseinandersetzung. Es geht eben nicht um die voyeuristische Konsumfreude an den Empfindungen Dritter, die Distanz schafft, sondern um einen ungewohnten Kontakt auf Augenhöhe, der die unbekannten Menschen einem nahe bringt. In dieser Öffnung gesellschaftlich gehemmter Persönlichkeitsbereiche äußert sich eine fundamentale Auflehnung gegen erdrückende Interaktionskonventionen.
Man könnte diesen Umstand, wie Rancière, noch stärker formulieren und behaupten, dass es sich nicht bloß um mehr oder weniger feste Konventionen handelt, sondern Gesellschaft durch eine starre „Aufteilung des Sinnlichen“ strukturiert ist. Körpern werden Identitäten zugewiesen, die festlegen, was sichtbar und sagbar beziehungsweise unsichtbar und unsagbar ist. Diese Aufteilung ist immer durch eine rigide Ordnung gekennzeichnet, die Gesellschaft in einer bestehenden Form stabilisiert. Wahrnehmung von Welt ist abhängig von den sozialen Funktionen, Tätigkeitsformen und Weisen zu sprechen, die Individuen zugeordnet sind.“[xi] Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik scheitert nicht selten schon an der mangelnden Übereinkunft, was unter den Begriffen der Politik oder des Poltischen zu verstehen ist. Mia Unverzagt testet mit ihrer Kunst gesellschaftliche Ordnungen, pointiert sie oder kehrt sie in ihr Gegenteil. Sie stellt die Aufteilung des Sinnlichen in Frage - die Konfrontation von natürlicher Gleichheit und gesellschaftlich bestimmter Ungleichheit erweckt manchmal Unbehagen, da sich andersartige Erfahrungsräume öffnen. Politik ist, so Rancière, der Konflikt um die Frage, welche Subjekte am „spezifischen Raum der gemeinsamen Angelegenheiten“ teilhaben und welche nicht.[xii] Kunst ist politisch, wenn sie zur Austragung dieses Konflikts beiträgt. Es muss sowohl um das Ganze als auch um die Teile gehen, die das Ganze zugleich bestimmen und von ihm bestimmt werden.
[i] Vgl. Held, Jutta: Einführung: Politische Kunst – Politik der Kunst, in: Frohne, Ursula; Held, Jutta (Hg.): Kunst und Politik: Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Band 9/2007, Göttingen 2008, S. 9-13, hier: S. 11.
[ii] Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch: Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (Orig. One-Dimensional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, Boston, Mass. 1964), hg. von Maus, Heinz; Fürstenberg, Friedrich, Neuwied und Berlin 1967.
[iii] Vgl. Rancière, Jaques: Ist Kunst widerständig? (Orig. Si l`art résiste à quelque chose?, Fortaleza, Brasilien 2004), hg. von Ruda, Frank; Völker, Jan, Berlin 2008, S.11. Rancière formuliert diesen Gedanken in Auseinandersetzung mit den Schriften von Gilles Deleuze und Félix Guattari.
[iv] Rancière 2008, S. 18.
[v] Vgl. Marcuse 1967, S. 25.
[vi] Vgl. Marcuse 1967, S. 54.
[vii] Vgl. Süddeutsche Zeitung, 25./26. Juni 2011, Nr. 144, S. 13.
[viii] Wagner, Hartmut: Kittelschürzen, in: Sproutbau, hg. von Team N; Vogelsang, Christina, Bremen 2009, S. 62-63.
[ix] Vgl. Marcuse 1967, S. 53.
[x] Vgl. Marcuse 1967, S. 16.
[xi] Vgl. Rancière 2008, S. 95-96.
[xii] Vgl. Rancière 2008, S. 77.
Stefanie Kreuzer
Ich stehe lieber
Mia Unverzagts fotografische Serien
Die fotografische Serialität ist ein Grundprinzip der Arbeiten von Mia Unverzagt. Erst die Wiederholung und ihr konzeptuelles Gegenstück, die Abweichung, scheinen dem einzelnen Bild innerhalb eines Ganzen den Rahmen zu geben und es damit im Hinblick auf seine Gültigkeit zu überprüfen. Handlungsanweisungen an die porträtierten Personen, vager oder ausformulierter Art, Fragen als Basis für Dialoge, die eine bestimmte Haltung vorgeben, stellen wesentliche Aspekte des Œuvres der Künstlerin dar. Oft wird ein visueller Rahmen gesetzt – ein bestimmter Ort, eine vorgegebene Auswahl an Kleidungsstücken, die Drapierung derselben etc.. Diese Konstanten, die sich in die seriellen Arbeiten einschreiben, stellen für die Porträtierten gleiche „Ausgangsbedingungen“ her. Sie formieren dergestalt ein Setting, innerhalb dessen die Aktion abläuft. Dieser Rahmen ist durch die Künstlerin definiert, das Ergebnis der (Inter)Aktion hingegen bleibt radikal offen.
Auch wenn formulierte Handlungsanweisung oder an die abgelichteten Personen gerichtete Fragen Ausgangspunkte zahlreicher Werke sind, so bleibt die Sprache im Endprodukt der einzelnen Fotografie und der gesamten Serie außen vor. Sie schafft zwar die Umgebung, die Stimmung, sie bereitet den Weg zu den angesprochen, mitunter auch stark emotional besetzten Thematiken, aber sie wird als individuelle Geschichte nicht lesbar. Und dennoch ist sie das Instrument der Welterkennung par excellence, weil sie auf die Beziehung von Subjekt zu Subjekt setzt. Sie generiert somit eine soziale Beziehung, die einen Anderen, ein Gegenüber impliziert, das in der künstlerischen Interaktion Vorstellungen zu bestimmten auch gesellschaftspolitischen Fragestellungen entwickelt, die durch die Implikationen der Künstlerin forciert werden.
Die Themen, die Mia Unverzagt in ihren Werken verarbeitet, haben durchweg einen mehr oder weniger offensichtlichen Erkenntnis- und damit auch Selbsterkenntnischarakter. Es handelt sich um Geschlechterfragen, die mit Verhaltensstrukturen korrespondieren; es sind Vorstellungen von Geschlechterbildern, die zugleich auch Identitätsbilder evozieren, provozieren und irritieren; es sind soziale Beziehungen und Verknüpfungen, die auf gesellschaftliche Normen und Rollen, Traditionen und Wertevorstellungen unterschiedlicher Generationen und den Wandel dieser Strukturen verweisen. Diese zugrunde liegenden Strukturen des Miteinanders werden für die Künstlerin entweder im Gespräch mit den Sujets ihrer Bilder oder auch in den Objekten der alltäglichen Welt selbst ablesbar. Kleidung, vielleicht weil sie dem Körper so nahe ist und ihn dabei verhüllen oder entblößen, verstecken oder inszenieren kann, avanciert zu einem ausschlaggebenden, wenn auch ambivalenten Element. Kleidung als Verkleidung, als Kostümierung oder im Gegenteil hierzu als „Uniform“, d.h. als vereinheitlichendes Moment, als Mittel der Identität oder als Code einer Rolle werden in den Fotografieserien bewusst eingesetzt und hinterfragt. Die Kittelschürze als Symbol einer weiblich konnotierten häuslichen Sphäre oder die unifizierende Einfarbigkeit, die beige Farblosigkeit anderer Werkreihen sind nur einige kontroverse Beispiele für die Relevanz der Gewänder im Werk der Künstlerin.
Der Körper und seine Haltung, seine Inszenierung, das Gesicht und seine Mimik, sein Pathos – all diese nonverbalen Zeichen formieren einen visuellen Bedeutungspool, der ein sehr instinktives, unmittelbares Kommunikationsmedium darstellt. Auf diese Aspekte richtet sich die Wahrnehmung der Betrachtenden, die im Bild nicht die individuelle Geschichte der Porträtierten rekonstruieren, die ohnehin für sie an keiner Stelle zu rekapitulieren wäre, sondern vielmehr eine universelle Problematik des Menschseins erkennen. Der so geschaffene Reflexionsraum ist offen für die Assoziationen, die Erfahrungen, die Erinnerungen und Projektionen, die sich an der Rezeption des Bildes entzünden.
Mia Unverzagts fotografische Serien sind – obgleich ihrer Grundprinzipien der Reihung und Wiederholung – keine wissenschaftlichen Experimente, die auf empirischer Basis Gesellschaftsanalyse betreiben. Dennoch legen sie gesellschaftlichen Strukturen offen, die durch die Fokussierung auf den Einzelnen in klar definierten – gelegentlich auch paradoxen – Situationen soziale Zusammenhänge wahrnehmbar werden lassen. Den Einstieg gewährt oftmals die Sprache, den weiteren Weg aber muss das Bild im Zusammenspiel mit der Wahrnehmungslust der Rezipierenden leisten.
Der Titel der Fotografieserie Du wartest bis du gerufen wirst impliziert eine Erwartung. Die an die auf den Arbeiten abgebildeten Personen gerichtete Aufforderung wird für die Betrachtenden in ihren Haltungen und Gesichtern, in ihrem Beieinander ablesbar. Die Aufforderung hält die Wartenden in regungsloser Anspannung und verankert sie damit am Ort ihres Seins. Dieses Verharren in aufmerksamer Regungslosigkeit richtet sich auf den Moment des Rufens, des versprochenen Zeichens, der eine Art Auflösung der Situation bereithält. Ablenkung und Konzentration, Spiel und Innenschau, Miteinander und Vereinzelung bestimmen die Szenerie, die in der Agonie des Verharrens die Zeit fühlbar werden lässt, fast so, als würde sich dieser Moment aus dem Kontinuum des Zeitflusses herauslösen lassen. Auf jemanden/etwas warten oder umgekehrt jemanden warten zu lassen, bestimmen nicht nur das Verhältnis der fotografierten Personen zur performativen Handlungsanleitung der Künstlerin, sondern zeigen zugleich auch eine durch Hierarchisierung charakterisierte Rollenverteilung auf, deren Ungleichgewichtung sich auf die Rezipierenden überträgt. Sie werden zu Teilhabenden der Anspannung, der Langeweile, der Erwartungshaltung. Zugleich sind die Szenerien aber auch durch eine enorme Poesie geprägt, die sich zum einen durch die Wahl des Ortes und zum anderen durch eine weitere Vorgabe der Künstlerin, aus einer Menge von zur Verfügung stehenden Kleidern eine Auswahl für die „eigene Verkleidung“ zu treffen, auszeichnen. Die bunten Kleidungsstücke kontrastieren mit dem Charme des verlassenen und teilweise verfallenen Hauses, das an einen fiktiven Ort der Kindheit – die Villa Kunterbunt aus Astrid Lindgrens Pippi-Langstrumpf-Romanen – erinnert.
Sich um die Pilze kümmern, so lautet die Handlungsanweisung der Künstlerin für die Fotografieserie, die nicht wie es der Titel vielleicht suggerieren könnte, sich auf die alltägliche Zubereitung eines auf dem Herd stehenden Essens bezieht, sondern auf den konkreten Handlungsakt vor Ort im Wald, wo die Pilze für gewöhnlich ohne menschliches Zutun wachsen. Dort nimmt der nur mit OP-Kitteln bekleidete Mann Berührung mit seiner Umgebung auf. Mit nackten Füssen schreitet er über den laubbedeckten, bemoosten Waldboden, kniet nieder, berührt die Pflanzen, liegt neben den Pilzen auf der Erde, verschmilzt mit einem abgesägten Baumstumpf, in dessen ausgehöhltem Inneren kleinere Pilze wachsen. Konzentration und Fokussierung auf die Aufgabe prägen die absurde Szenerie, die aber auch einen fast zärtlichen Umgang mit der Umgebung des Waldes und seiner Pflanzen widerspiegelt - eine Versenkung in den Ort und die Aufgabe. Dieses Aufgehen im Ganzen wird besonders bei einem Bild der Serie deutlich, auf dem nur noch die OP-Kittel und nicht die Person, die sie getragen hat, zu sehen sind. Aufgehängt an den Ästen eines Baumes rufen sie das Bild eines Abschieds hervor. Der Mensch hat sich scheinbar in der Szenerie des Waldes aufgelöst.
Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungs – bereits im frühen Säuglingsalter werden geschlechtsspezifische Differenzierungen nicht nur im Hinblick auf das farbliche Konzept der Kleidung vorgenommen. Die Farbe Rosa (besonders, wenn sie als pastellfarbene Variante des aggressiveren Pink erscheint) steht als Zeichen von Zartheit und Weiblichkeit. So erscheint die in Rosa gekleidete Akteurin der Fotoserie Die Blumen ohrfeigen, eine reife Frau mit bereits ergrauten Haaren, als eine konservative Vertreterin unserer bürgerlichen Gesellschaft. Im Hintergrund wird dies auf einigen Arbeiten durch das abgelichtete kleinbürgerliche Ambiente (die typische Schrankwand unzähliger Wohn- oder Esszimmereinrichtungen) unterstrichen, wodurch sich der Eindruck einer angepassten, die klassischen Rollenvorstellung bedienenden Person verstärkt.
In der Handlungsanweisung der Künstlerin, die Blumen zu ohrfeigen, liegt nicht nur die Absurdität der Aktion, die auch eine gewisse Komik in sich trägt, verborgen, sondern auch deren Traurigkeit oder Hilflosigkeit. Der Moment des Ohrfeigens, die Konzentration auf die Handlung, die Ernsthaftigkeit der Durchführung sowie das Resultat nach vollbrachter Tat, das die Täterin durchaus mit einer gewissen Art und Weise von Stolz zu erfüllen scheint, sind auf den Bildern der Serie festgehalten. Die Zerstörung ist weniger grausam als poetisch, die ebenfalls rosafarbenen Blüten, vereinzelte Blätter und ein wenig Erde liegen malerisch auf der weißen Tischdecke. Der Moment des Ohrfeigens der Blüten ist nicht abgebildet, da die Kamera über die Pflanze hinweggeht und nur die Bewegungen der Hand, nicht aber das zu „bestrafende“ Objekt einfängt. Es entsteht eine Leerstelle für Projektionen, was sich anstelle der Blumen dort auch befinden könnte.
Die Kittelschürze erscheint uns als ein Relikt aus nicht allzu ferner Vergangenheit. Sie war das klassische Kennzeichen für den weiblichen Arbeitsbereich, da sie typischerweise beim Verrichten von Hausarbeiten übergezogen wurde, um die sich darunter befindenden Kleidungsstücke zu schützen. In dieser Hinsicht stellt sie das vestimentäre Pendant zum Blaumann dar, der den männlichen und vorwiegend außerhäuslichen Arbeitsbereich kennzeichnet. In dieser geschlechterspezifischen Aufteilung von Kleidungsstücken und Orten – Kittelschürze ist weiblich und häuslich, Blaumann ist männlich und außerhäuslich – nimmt der verlassene Wohnraum, an dem die Bilder der Fotoserie entstanden, eine kommentierende Funktion an. Hat sich die typisch weibliche Sphäre, die durch traditionelle Hausarbeiten charakterisiert war, gewandelt? Ist sie zu einem Geschlechterklischee der Vergangenheit geworden?
Die Künstlerin hat der porträtierten Frau mehrere Kittelschürzen mit unterschiedlichem Design zur Auswahl gestellt, die sie in leeren Hochhäusern in Bremen-Tenever vor den teilweise abgewohnten, mit altmodischen Tapetenmustern beklebten Wänden getragen hat. Auch wenn die Aufnahmen nur kleine Raumausschnitte zeigen, so sieht man dennoch, dass die Wohnungen leer und verlassen sind. Dies erweckt den Eindruck, als wäre die vor den unterschiedlichen Wänden porträtierte Frau zurückgelassen worden, als sei auch sie als Modell mit Kittelschürze ein ausgedientes, den vergangen Zeiten angehörendes Klischee. In diesem Zusammenhang wird sie selbst zu einem Bild der Vergangenheit.
Die Fotoserie Weiblichkeit und Macht setzt dort an, wo die beiden titelgebenden Konzepte klassischerweise als Gegensätze verstanden werden – nämlich in der lateinamerikanischen, durch patriarchale Strukturen gekennzeichneten Machokultur Mexikos. Dort hat die Künstlerin mexikanische Männer und Frauen porträtiert, denen sie geschlechtsbezogen jeweils eine unterschiedliche Frage gestellt hat. Die Männer wurden gefragt, wann sie sich am weiblichsten gefühlt haben, und den Frauen wurde die Frage gestellt, wann sie Macht hatten. Die sich daraus entwickelnden Gespräche, bei denen die Künstlerin die jeweiligen individuellen Geschichten der Porträtierten zu hören bekam, sind nicht Teil der Arbeit. Sie werden an keiner Stelle als Text oder Dokumentation den Fotografien beigegeben.
Der Rahmen, innerhalb dessen die Männer- und Frauenporträts entstanden sind, unterscheidet sich dahingehend, dass zwar beide Gruppen vereinheitlichende Kleidungsstücke tragen, aber zwischen verschieden bemusterten Stofftüchern wählen konnten. Die Männer allerdings mussten das Stofftuch über die Beine legen, so dass dadurch bereits eine eher weibliche Drapierung des Tuches suggeriert wurde, während es bei den Frauenbildern als kräftigfarbener Hintergrund für die Szenerie dient. Das über die Beine gelegte Tuch ruft zugleich nicht nur den Eindruck eines Zurückziehens und Versteckens, sondern auch den Eindruck einer eingeschränkten Bewegungsfreiheit hervor. In diesem Kontext treten nun die Gesichter und mit ihnen die unterschiedlichsten Regungen der Personen, die sie beim Beantworten der an sie gerichteten Fragen verspürten, sehr deutlich hervor. Auch wenn die individuelle Geschichte im Dunkeln bleibt, so lässt sich doch in den Mimiken lesen. Bilder von Verunsicherung und Abneigung, von Freude und Überraschung sind entstanden, die basierend auf den provokanten Fragen der Künstlerin einiges über die Rollenverteilung sowie die Wertigkeiten der patriarchalen Gesellschaft Mexikos aussagen und zugleich die Betrachtenden ebenfalls dazu provozieren, ihre eigenen Vorstellungswelten im Hinblick auf das Verhältnis von Weiblichkeit und Macht zu überprüfen. Wie hältst du es mit den Qualitäten von weiblicher Macht beziehungsweise männlicher Weiblichkeit – so könnte die Gretchenfrage hier lauten.
Der Titel Andere Fauna provoziert die Vorstellung einer Exotik, etwas ist anders als das Gewohnte. Aber zugleich zeigt er auch die Möglichkeiten der Imagination auf. Bei den Arbeiten dieser Serie handelt es sich Fotografien, die Kinder und Jugendliche beim Betrachten von Pflanzen zeigen, die wir nicht so ohne weiteres in unseren Breitengraden verankern können. Entstanden sind die Aufnahmen in Mexiko im Bundesstaat Hidalgo, wo die Fotografien nachträglich von Einwohner/innen bestickt wurden, die die Künstlerin zuvor gebeten hatte, etwas zu imaginieren, was die Personen auf den Bildern gesehen haben könnten. So ist eine farbenfrohe Fantasiewelt entstanden, die die Betrachtenden in die Schönheit der Imagination entführt.
Die Worte Ins Auge fassen rufen eine sprachliche Ambiguität hervor, die sowohl die konkrete Handlung im wörtlichen Sinne als auch die im übertragenen Sinne zu verstehende Zielsetzung impliziert. Zu sehen sind auf den unterschiedlichen Aufnahmen der Serie zwei Jugendliche in einem verlassenen Raum, in dem sich noch Reste eines Lebens, ein Waschbecken an einer gefliesten Wand und ein leerer Schrank befinden. Beide Personen tragen beigefarbene Kleidung, die keine eindeutige geschlechtliche Zuordnung erlaubt, obgleich einige Anzeichen (wie die transparenten Nylonstrümpfe oder die Sandalen) dies zu suggerieren scheinen. Die Agonie des Momentes, der die Protagonisten der Serie auf die wenigen Quadratmeter des Raumes bannt, überträgt sich auf ihre Gesten und Körperhaltungen. Fast nichts geschieht und dennoch scheint die Szene von großer Intimität aufgeladen zu sein. Die Betrachtenden kommt in die Verlegenheit , sich fast wie Voyeur/innen zu fühlen, die in die Selbstversunkenheit der Personen blicken.
Im Wechsel aus Hoch- und Querformaten entspannt sich die Fotografieserie Was wir auf dem Land tun. Die einzelnen Arbeiten zeigen im lockeren Rhythmus alternierend zwei Personen, die dem Titel der Serie folgend, auf den ersten Blick das tun, was man auf dem Lande so tut... oder von dem vielleicht ein klischeevoller Blick annimmt, was man auf dem Land so tut. Doch Aufmachung und Ambiente sowie die ausgeführten Tätigkeiten versetzen die Betrachtenden in Irritation. Während die hochformatigen Arbeiten vielfach der jünger wirkenden Person zugeordnet sind, die eindeutig männliche Kleidung trägt, gelegentlich ostentativ in die Kamera blickt und sogar vor Motiven aus dem intimen Bereich des Badezimmers beim scheinbaren Urinieren nicht zurückschreckt, sieht man auf den querformatigen Arbeiten oftmals in gebückter, in sich verschlossen, von der Kamera abgewendeter Haltung einen Mann beim Verrichten von klassischen Hausarbeiten wie Staubwischen, Aufräumen, Putzen etc. Jeder Ansicht beraubt, scheint er versunken in den Tätigkeiten des Hauses aufzugehen. Selbst beim einzigen Bild, das ihn frontal einfängt, weicht er dem Blick des Anderen, der Kamera, aus, indem er konzentriert die merkwürdige Kleidung, die er trägt, glattstreicht oder vielleicht sogar einen Fussel entfernt. Beide Personen tragen, das ist klar erkennbar, die Kleidung eines anderen. Dies ist nicht nur im voluminösen Jackett der als „männlich“ charakterisierten Figur oder vice versa in den viel zu kleinen Schuhen der anderen Person ablesbar, sondern auch im Stil und in der Beschaffenheit der Kleidung selbst.
Auch ohne die Handlungsanweisung der Künstlerin zu kennen, die mit ihrem Mann nicht nur einen Rollen-, sondern auch einen Generationen übergreifenden Kleidungstausch inszeniert hat, wird ersichtlich, dass es hier um die Unsicherheit der Zeichen, Rollen und Geschlechterverhältnisse geht. Nicht nur, dass die männlich oder weiblich denotierten Kleidungsstücke zwischen den Geschlechtern vertauscht wurden, sie sind zugleich auch Träger von Konnotationen, die auch eine historische, zeitliche Verortung zulassen. Sie sind Zeichen einer kaum vergangenen Epoche. Ihr Stil, ihr Schnitt, ihr Material verweisen in die nicht allzu ferne Vergangenheit. Auch ohne das Wissen, dass die Künstlerin und ihr Mann die Kleidungsstücke ihrer Großeltern tragen, wird deutlich, dass geschlechterspezifische Rollenklischees und deren historische Verankerung hier auf den Prüfstand gehoben werden. Da es sich eben nicht um eine distanzierte historische Kostümierung, sondern für die Künstlerin um erlebte Vergangenheit handelt, wird der in den Arbeiten durch den Rollentausch angedeutete Wandel geschlechterbezogenen Agierens auch für die Betrachtenden zu einer Reflexionsform. Sie staunen dergestalt nicht über eine historisch weit zurückliegende gesellschaftliche Struktur, sondern können die Verbundenheit mit den damaligen Gegebenheiten anhand ihrer eigenen Erfahrungen analysieren. Pikanterweise taucht in der Abfolge der Arbeiten auch eine intime Szene im Badezimmer auf, deren angedeutete Handlung „im Stehen zu pinkeln“ ironisch das Konzept von Männlichkeit aufbricht.
Ein schönes Bild für die gesamte Haltung, die sich durch die künstlerischen Arbeiten Mia Unverzagts zieht.
Dr. Ingmar Lähnemann
Weiblichkeit und Macht
In zwei Serien präsentiert Mia Unverzagt mexikanische Frauen und Männer. Unter dem Titel Weiblichkeit und Macht reflektiert die Künstlerin Gespräche, die sie mit den Dargestellten geführt hat. Diese wurden eingeladen, sie durften zwischen wenigen Kleidungsstücken wählen, die sie angezogen haben und sich einen Stoff aussuchen, den die Männer sich über den Beinen und die Frauen als Hintergrund haben. Die Frauen wurden gefragt, wann sie Macht hatten, die Männer, wann sie sich am weiblichsten gefühlt haben.
Doch von diesen Fragen, den Antworten und den entstehenden Dialogen bleibt nur ein Bild, das sich mit anderen zu einer Serie fügt und auf diese Weise seinen konzeptuellen Hintergrund zeigt. Man kann sich die Geschichte, die hinter dem Bild steht, nur vorstellen. Man wird sie aber im Kontext von Geschlechterfragen und typischen Rollenvorstellungen verorten, denn genau dies wird mit dem Titel und der Serialität der Aufnahmen angeregt.
Da Mexiko eine patriarchale Gesellschaft mit ausgeprägter Machokultur ist, erkennt man immer zuerst die Provokation in den Fragen der Künstlerin und in den Bildern, die für ihre Gespräche stehen. Weiblichkeit gehört in der klischeehaften Rollenvorstellung vom mexikanischen Mann nicht zu seinen Eigenschaften. Und Macht ist etwas, das man mexikanischen Frauen in diesen Rollenklischees nicht zugesteht
So sieht man in einigen der Fotografien, die Mia Unverzagt in Ausstellungen als große Formate zu ihrem Recht als einzelnes, wirkungsmächtiges Bild kommen lässt, tatsächlich die Unsicherheit und Ablehnung, die von den provokanten Fragen erzeugt werden. Zu erkennen ist aber in einigen Fällen auch eine sehr selbstbewusste Stellungnahme der Befragten, denen männliche Weiblichkeit und weibliche Macht nicht unvereinbar scheinen.
In diesem Moment müssen sich Rezipienten dieser Serien fragen, ob sie nicht eher ihre eigenen Rollenvorstellungen, zumindest aber ihre Vorurteile auf die Bilder projizieren und so analysiert Mia Unverzagt nicht nur als Außenstehende die mexikanische Gesellschaft, sondern befragt sehr subtil und von innen unsere eigene Sozialisation und Meinung.
Wulf Herzogenrath
Darüber reden wir noch
Mia Unverzagt portraitiert ihr unbekannte Menschen, die ihr intime Gefühle und Geschichten offenbaren. Es sind Reihen von Portraits jeweils unter gleichen Bedingungen, an einem Ort, einem kleinen Laden oder Container. Sie bittet die Menschen fotografieren zu dürfen, wenn sie sich – meist erzählend - an ein bestimmtes Gefühl erinnern, angezogen in jeweils gleicher Farbe.
Seit den 1910er Jahren hat der in Köln arbeitende Photograph August Sander bis zu seinem Tod 1964 mit seinen schwarz-weiß Portraits der „Menschen des 20 Jahrhunderts“ ein Werk mit über 600 Einzelbildern entwickelt, das er dann zwischen 1925 und 1927 nach beruflichen, sozialen und familiären Gesichtspunkten so gliederte, dass ein typologisches „Antlitz der Zeit“ entstand – so der Titel seines Werkes von 1929. Stefan Moses ist ein würdiger Nachfolger Sanders in seiner nüchternen, erhellenden Sicht auf die Deutschen, die er alle vor einem gespannten Filztuch einheitlich fotografiert: „Deutsche – Portraits der sechziger Jahre“ (1980) und „Ende mit Wende“ (1990). Viele Namen könnte man hier nennen, die künstlerisch präzis und gesellschaftlich aufschlussreich bestimmte Gruppen portraitierten: Herlinde Koelbl (seit ihrem ersten Buch mit Menschen in ihren Wohnzimmern) bis Reiner Leist (Portraits und Texte aus Südafrika) oder Thomas Struth „Familienportraits“. Für das Werk von Mia Unverzagt mag die Serie der „Familienportraits“ von Thomas Struth deshalb von besonderer Bedeutung sein, weil hier nicht nur die ruhige Frontalität und relative Gleichförmigkeit der fotografischen Position Vergleiche ermöglicht, sondern die psychologische Beziehungen, das Familien-Geflecht mit seinen sichtbar werdenden Zuordnungen thematisiert werden und so diese Familienportraits zugleich spannungsreiche, ja sogar emotionsgeladen wirken – trotz aller nach außen getragenen Gelassenheit.
Für unser Thema der Bildreihe Mia Unverzagts Projekt „Darüber reden wir noch“ ist aber ebenso aufschlussreich eine weitere Linie: immer wieder wurden Photos von Menschen gemacht, um den Gesichtsausdruck bestimmter Seelenzustände wie Schmerz oder Freude zu studieren, ihn für Maler als Vorbild nutzen zu können. Guillaume Duchenne de Boulogne veröffentlichte 1862 ein ganzes Buch mit Portraits von Menschen, die er elektrischen Schocks ausgesetzt hatte, um unterschiedliche Reaktionen und Gefühle sichtbar zu machen. Diese „Electro-Physiologie Photographie“ des Arztes Duchenne diente auch Darwin für die Illustration seiner Veröffentlichungen. Dass Künstler – wie Wols oder Kurt Kranz - solche Gebärdensprache fasziniert und diese solche Selbstportrait-Reihen gestalteten, sei noch hinzugefügt. Doch keiner hat dies Thema in großen Reihen so schmerzhaft und eindrucksvoll ins Bild gesetzt wie der Berliner Dieter Apelt in den letzten drei Jahrzehnten..
In diesem Spannungsfeld – auf der einen Seite: gleiche Ausgangsgegebenheiten für die Dargestellten, auf der anderen stark emotionale, vergleichbare Thematik – entsteht das neue Werk von Mia Unverzagt. In fünf Städten baute sie ihr einfaches, kleines Studio an unscheinbaren Orten auf, zwar öffentlich zugänglich, aber kaum als Ort der Kunst erkennbar. Sie bot jeweils Kleidung in einer Farbe als vereinheitlichendes Element an, um die zu Portraitierenden zu bitten, sich an ein bestimmtes Gefühl zu erinnern – dies ist dann der Anlaß und das Motiv des Fotografiert werdens:
In Beige: wann man sich im Leben am ohnmächtigsten gefühlt habe (Dresden, Saarbrücken)
In Rot: wann man sich im Leben am verlassensten gefühlt habe (New York)
In Weiß: wann man sich im Leben am zornigsten gefühlt habe (Bassum)
In Grau: wann man im Leben den größten Fehler begangen, die größte Schuld auf sich geladen habe (München).
Es geht hier um das Erinnern, an die eigene Auseinandersetzung, um das Erzählen von Gefühlen, von Verletzungen. Es war Teil der Vereinbarung, dass die Künstlerin nicht über die Inhalte berichtet – wir können nur ahnen und in den Gesichtern lesen. Dies unterscheidet Mia Unverzagts Projekt von vielen anderen, die gerade die Texte, Berichte oder Beichten als Text gleichwertig neben die Bilder fügen. Dagegen betont die Künstlerin, dass gerade die Tatsache, dass sie dem Einzelnen die Anonymität belässt und allein die Bilder sprechen lässt, den Menschen Mut gegeben hat, sich an solche Situationen und Gefühle zu erinnern. Es ging weder um wissenschaftliche Versuchsreihen, noch um „schöne“ Portraits, sondern darum „dass die Leute etwas bei mir lassen“, wie Mia Unverzagt sagt. Deshalb finden diese Portrait-Sitzungen in halböffentlichen Räumen an unspektakulären Orten statt. Die Portraitierten entdecken selbst den Ort, betreten meist schüchtern neugierig den für kurze Zeit neu entstandenen Ort, der ihnen Kleider in einer einheitlichen Farbe zum Aussuchen anbietet. Damit konzentrieren wir uns als Betrachter der Fotos ganz auf die Unterschiede der Gesichter, auf den jeweiligen Ausdruck. Die Reduktion der äußeren Mittel ermöglicht eine große Ruhe. Und wir beschäftigen uns mit unseren Gedanken zu dieser Fragestellung, denn die Gesichter der Portraitierten sprechen nur zu uns, wenn wir uns selbst Antworten geben: hier werden die Portraits der Anderen zu unseren Portraits, die uns verschlossenen Erzählungen können wir nur mit unseren eigenen füllen.
Mia Unverzagt gelangen so Portraitfotos, die uns Fremde zeigen, die uns auf Grund unserer eigenen Erinnerungen nah sind.
Darüber reden wir noch
Mia Unverzagt im Gespräch mit Sebastian Neußer
S.N.: Deine mehrteilige künstlerische Fotoperformance mit dem Titel Darüber reden wir noch erstreckte sich über einen Zeitraum von drei Jahren und wurde an verschiedenen Orten realisiert. Ein Raum war dabei jeweils in einer Farbe (Beige, Rot, Weiß und Grau) mit passenden Objekten und Kleidungsstücken eingerichtet. Teilnahmebedingung war das Anziehen jeweils einfarbiger Kleidung aus dem zur Verfügung stehendem Angebot und die Beantwortung einer von dir gestellten Frage. Während des Erzählens hast du die Teilnehmer fotografiert und nun für dieses Buch eine Auswahl der entstandenen Fotos zusammengestellt.
M.U.: Die Arbeit war nicht von Beginn mehrteilig geplant. Jede einzelne Aktion ist auch für sich zu sehen. Die Orte, so verschieden sie waren, mussten öffentlich zugänglich sein und sollten der Aktion nicht die Atmosphäre dramatischer Inszenierung verleihen. Die einzelnen Teile ähneln sich in ihrem grundsätzlichen Aufbau, unterscheiden sich aber in so vielen Punkten, dass eine direkte Vergleichbarkeit sinnlos bzw. unmöglich wäre. Jeder Raum ist eine Frage, die zum individuellen Ausdruck der Teilnehmer führt. In Dresden ging es um das Gefühl der Ohnmacht, in New York um Verlassenheit, in Bassum um Zorn und in München um Schuld.
S.N.: Das Ablegen der eigenen Kleidung und die darauf folgenden Fragen bedeuten doch einen enormen Eingriff in die Privatsphäre der Teilnehmer. Es erinnert mich an das Ritual der Beichte, nur kannst du als Künstlerin kaum institutionelle Absolution oder göttlichen Beistand versprechen. Bestand niemals während der ganzen Zeit ein Gefühl, deinem Gegenüber zu Nahe gekommen zu sein?
M.U.: Absolution halte ich nicht für erstrebenswert, da sie Menschen in die Passivität drängt. Beistand, in diesem Fall künstlerischer und nicht göttlicher Natur, kann ich sehr wohl bieten. Mit einem Beichtstuhl haben meine Räume jedoch wenig gemein, auch wenn sie eine Schwellensituation zwischen öffentlichem und privatem Raum darstellen. Mein Interesse liegt in der Annäherung an verdeckte Strukturen, weshalb ich den Menschen auf eine Art näher kommen möchte, die den Blick für gesellschaftliche Zusammenhänge schärft. All diejenigen, die sich mir während dieser Zeit mitteilten, standen niemals in einer Abhängigkeit, weshalb ich eine Parallele zur religiösen Beichte nicht sehe. Dort wird Schuld zugewiesen und Entschuldigung unter göttlicher Legitimation versprochen. Bei mir geht es um menschliche Begegnung auf Augenhöhe. Die nicht alltägliche Form von Distanzverlust unter Fremden erachte ich als Gewinn für beide Seiten, doch das bedeutet nicht, dass meine Arbeit therapeutische Absichten verfolgt. Mir geht es um die Form der Fotografien und nicht die Offenbarung – geblieben sind die Bilder, die Geschichten sind ein Geheimnis zwischen den Teilnehmern und mir.
S.N.: Wenn diese Aktionen nicht als künstlerische Gesellschaftstherapie gedacht sind, so frage ich mich einerseits, was die Leute zur Teilnahme an Deinem Projekt bewogen hat und andererseits, was deine Bilder denjenigen vermitteln sollen, die über kein Wissen hinsichtlich der zugrunde liegenden Fragen verfügen. Ich habe darüber nachgedacht, ob mir einzelne Bilder eine Brücke zu der individuellen Geschichte der abgebildeten Menschen bauen, doch mir erschließt sich keine eindeutige Verbindung zwischen einzelnen Gesten und einer möglichen dazugehörenden Geschichte.
M.U.: Das hoffe ich, da die Bilder nicht eindimensionale Geschichte erzählen. Zwischen Betrachter und Fotografie öffnet sich idealerweise ein narrativer Raum, der nichts mit der Rekonstruktion vorgegebener Geschichte zu tun hat. Es sind nicht die Geheimnisse der dargestellten Menschen, die hier von Bedeutung sind, sondern die eigenen Geheimnisse, zu denen man mit Hilfe der Bilder gelangen kann. Sie fungieren als Kommunikationsfläche, die zum Nachdenken und Weiterdenken einlädt. Den Betrachtern kommt demnach eine ganz wesentliche Bedeutung zu; sie können das Kommunikationsangebot annehmen, was Missverstehen, Andersverstehen, Interpretieren und auch Belächeln als mögliche Reaktion mit einschließt. Genauso muss Kunst auch Raum zur Ablehnung ermöglichen – eine Vorstellung, die bei vielen Künstlerinnen und Künstlern großes Unbehagen hervorruft.
S.N.: Sprichst du damit auf fotografische Hochglanzformate an, die in ihrer überwältigenden Präsenz Betrachtung erzwingen?
M.U.: Ja, ich lehne Überwältigungsstrategien ab, da sie erdrücken und letztendlich Ausdruck einer Angst vor Kritik sind. Ablehnung, Nicht-Teilnahme und Anders-Verstehen sind wesentliche Aspekte der Kommunikation, denen ich mit meiner Kunst Raum geben möchte.
S.N.: Wäre die Preisgabe eines nur erdachten Geheimnisses demnach eine von dir als gleichwertig akzeptierte Form der Teilnahme an diesem Projekt? Verbreitet sich nicht in den letzten Jahren zunehmend ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Teilnahme und medialer Präsenz, das meist unter dem Deckmantel privater Enthüllung organisiert wird. Die Konstruktion fiktiver Identitäten ist Kern verschiedener medialer Formate; Denken wir an die allnachmittaglichen Reality-Dokumentationen im TV, so ist wohl eine breite Tendenz zum Emotions-Exhibitionismus nicht zu bestreiten, dessen Authentizität in vielen Fällen fraglich ist. Die inszenierte Zurschaustellung persönlicher Geständnisse täuscht über die Ereignislosigkeit des eigenen Lebens hinweg, das seine Bestimmung zu großen Teilen nur noch im Medienkonsum findet. Liegt vielleicht ein Reiz gerade in der Preisgabe intimer Gegebenheiten, die mit tatsächlich erlebter Realität nichts mehr zu tun haben.
M.U.: Ich kann und wollte auch nicht nachprüfen, ob das mir Erzählte tatsächlichen Erlebnissen entspricht, frei erfunden oder abgewandelt wurde. Es geht auch nicht um die Authentizität der Geschichten - das Bild muss überzeugend sein. Bei einer Erzählung gibt es immer einen Kern tatsächlicher Ereignisse, doch mich fasziniert vor allem die Interpretation des Erlebten. Welche Schemata des Erzählens existieren? Wie verwandeln und verknüpfen sich Erinnerungen? Zudem glaube ich nicht an die klare Trennung zwischen wahren und falschen Erzählungen: Jede Form der Teilnahme ist Ausdruck einer inneren Disposition, die abseits der Kategorie von wahr/falsch existiert. Fraglos gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zur öffentlichen Preisgabe ehemals privater Bereiche, die unter anderem Folge der zunehmenden Isolation des Menschen in der Gesellschaft ist. Da die Teilnehmer meiner Aktionen selber fühlen müssen und sich nicht von einem medial aufbereiteten Emotionssumpf berieseln lassen können, steht die Arbeit in Beziehung zu den von dir angesprochenen Formaten, doch im Ergebnis geht es eben nicht um den Inhalt der Geschichte, sondern die Rezeption des Bildes.
S.N.: Die Fotos lenken die Aufmerksamkeit aufgrund der zurückhaltend einheitlichen Farben der kargen Räumlichkeiten auf die Gestik und Mimik der Teilnehmer. Glaubst du an ein gesellschaftlich geprägtes Repertoire von wiederkehrenden Mimiken und Gestiken, die mit bestimmten Gefühlsituationen in direkter Verbindung stehen? Von der Künstlerin Hannah Wilke gibt es ein Video mit dem Titel Gestures von 1974, an das ich denken musste. Der Bildausschnitt beschränkt sich auf ihr Gesicht und die Hände vor dunklem Hintergrund. Gezeigt wird die Künstlerin, wie sie eine Folge eindeutig weiblich konnotierter Mimiken und Gestiken vorführt und damit in sehr undogmatischer Form die Vergesellschaftlichung und Kommerzialisierung des weiblichen Körpers thematisiert.
M.U.: Diese Arbeit von Wilke ist eine ganz entscheidende für die Geschichte der feministischen Kunst und heute noch aktuell. Der menschliche Körper, und das bezieht sich natürlich nicht nur auf den weiblichen, ist Kommunikationsmedium. Er drückt aus, vermittelt und kann instrumentalisiert werden. Dieses Thema war für Wilke zentral und ein Blick in die heutige Werbelandschaft zeigt, wie der menschliche Körper immer noch und stärker den je als Instrument der Produktvermarktung - vom Schokoriegel bis zum Waschpulver - dient. Bei meiner Arbeit interessieren mich die Strukturen unserer Gesellschaft, die, so glaube ich, vielerorts ein blinder Fleck unserer Wahrnehmung sind. Darüber reden wir noch sollte keine dramatischen Ergebnisse liefern, die mit der eindeutigen Stimmung von Wut, Ohnmacht oder Zorn daher kommen. Ich will nicht erdrücken, sondern das Bild in all seiner Widersprüchlichkeit zeigen. Unsere Zeit ist geprägt von Vereinheitlichung auf allen Ebenen, doch der persönliche Ausdruck ist wichtiges Refugium jenseits aller Normierung, der leider allzu oft unterschätzt wird. Kürzlich las ich in der Zeitung, Forscher der Universität Frankfurt hätten herausgefunden, dass beruflich aufgesetztes Dauerlächeln zu Depressionen führen kann. Es wird beispielsweise Verkäuferinnen und Flugbegleiterinnen angeraten, in den Arbeitspausen zum gesundheitlichen Selbstschutz auf Lächeln zu verzichten. Das klingt absurd, doch es zeigt, wie sehr die Bedeutung von Mimik bisher unterschätzt wurde und eben nicht nur aufgesetzte Maske ist, sondern körperliche Relevanz hat.
S.N.: Ich würde gerne noch einmal auf den Aspekt des Geheimnisses zurückkommen, der, wenn auch nicht inhaltlich, so doch in anderer Hinsicht von direkter Bedeutung für das Bild ist. Einerseits ist der Körper selbst bildliches Kommunikationsmedium, doch Basis der Fotoperfomance ist sprachlicher Austausch. Du bestimmst den thematischen Rahmen, ermutigst die Menschen zum Gespräch und konzentrierst dich neben der Geschichte vor allem auf die Mimik und Gestik, die häufig als rhetorische Begleiterscheinungen angesehen werden. Die sprachliche Kommunikation ist von entscheidender Bedeutung, da sie als gestisches Lockmittel eingesetzt wird. Das körperliche Agieren ist nicht zuletzt durch das Gefühl bestimmt, ein Geheimnis, gleich welcher Art, preiszugeben. Insofern verleiht dieses einseitige Vertrauensverhältnis dir eine ganz neue Künstlerinnenrolle, die einer unbeteiligt Fotografierenden nicht zukommt. Ich habe da eine Performance von Vito Acconci im Sinn, der sich im Jahr 1971 für Untitled Project for Pier 17 für die Dauer eines Monats jede Nacht für eine Stunde an einen entlegenen Ort setzte und Leuten, die aufgrund seiner vorherigen Ankündigung dorthin kamen, eine sehr private Geschichte erzählte, die bei Enthüllung äußerst peinlich für ihn gewesen wäre.
M.U.: Die meisten meiner künstlerischen Arbeiten haben mit Kommunikation zu tun. Erwiderung und Widerhall sind zwei Begriffe, die mich dabei beschäftigen; Erwiderung impliziert ein Gegenüber, auf das man sich einlassen muss. Meine Arbeit entsteht zwischen den Menschen, auf die ich mich einlasse und die sich auf mich einlassen. Sicherlich gibt es ein Konzept, das aber wiederum durch vorherige Kommunikationen motiviert wurde. Die Arbeiten selbst sind Ergebnis vielschichtiger Interaktionsprozesse. Bei Darüber reden wir noch habe ich die Fragen gestellt, Räume und Objekte gewählt und fotografische Entscheidungen getroffen. Die Bilder jedoch wurden nicht von mir inszeniert, sondern ergaben sich aus dem, was die Teilnehmer mit mir teilten. Widerhall bezieht sich dagegen auf die reine Illusion eines Anderen; wie bei einem akustischen Echo oder einer bildlichen Spiegelung reflektiert man nur sich selbst.
S.N.: Der Titel Darüber reden wir noch trägt eine Mehrdeutigkeit in sich. Zum einen verwendet man die Aufforderung bei Gesprächen in öffentlicher Runde; es ist eine Abmachung zwischen zwei Menschen, die mit ihrer Kommunikation an einen Punkt gelangen, der größere Privatheit zur Fortführung verlangt: Wir verstehen uns, die Übrigen hat das nicht mehr zu interessieren und darüber reden wir noch unter vier Augen. Zum anderen existiert eine Drohung, die vielleicht gerade Kindern bekannt ist. Ein Darüber reden wir noch der Eltern enthält die unmissverständliche Botschaft, das klare Regeln überschritten wurden, man jedoch unter öffentlicher Beobachtung nicht die Fassung verlieren möchte. Sanktionen sind zu Hause zu erwarten. Deine Fragen während der Aktionen bezogen sich auf die Gefühle Ohnmacht, Verlassenheit, Zorn und Schuld. Wo bleiben die glücklichen Gefühle?
M.U.: Die Frage nach dem Glück ist eine sehr schwierige. Glücklichsein ist in unserer Gesellschaft als allgemeines Ziel anerkannt, doch mir scheint, dass es häufig als zufriedenes Oben-auf-Schwimmen verstanden wird. Wenn Glück tatsächlich gedankenloses Wohlbefinden bedeutet, so bin ich weder als Mensch und schon gar nicht als Künstlerin daran interessiert. Mich beschäftigt ein möglichst breites Spektrum an Gefühlen; tiefes Erleben anstelle des kurzlebigen Augenblicks. Vielleicht frage ich gerade nach Ohnmacht, Verlassenheit, Zorn und Schuld, weil es sich dabei um existentielle Gefühle des Menschseins handelt, die im gesellschaftlichen Diskurs weitestgehend übergangen werden. Man spricht nicht von Ohnmacht, sondern darüber, wie Macht gewonnen werden kann. Bei Verlassenheit geht es meist um Wege zu ihrer Überwindung und ein Gefühl wie Zorn hat in unserer vordergründig harmonisierten Gesellschaft gar keine Existenzberechtigung. Zorn wird lediglich als Unvermögen angesehen und ist Ausdruck der Tatsache, mit einer gegeben Situation nicht produktiv umgehen zu können. Diese Einstellung hat für mich nichts mit Pessimismus zu tun, sondern mit Anerkennung eines vielfältigen Menschseins.
S.N.: Verbindet die einzelnen Gespräche eine inhaltliche oder zeitliche Struktur, die über die gleich bleibende Frage hinausgeht?
M.U.: Nein, ich stellte meine Frage und der weitere Verlauf war offen. Es gab keine feststehenden Anschlussfragen oder ein zeitliches Limit. Natürlich erinnere ich mich an Gespräche, die interessanter als andere waren und so bestimmte auch meine Art des Rückfragens die Gesamtdauer. Ein Gespräch wird entweder von Außen unterbrochen oder von einem der Gesprächspartner beendet. Diese Situation ist schwierig, da sie den Anderen zurücklässt. Es existieren viele rhetorische Brücken, die über ein Gesprächsende hinweghelfen. Bei Darüber reden wir noch bleiben die Bilder, die Anfangspunkt weiterer Kommunikation sind.
Sebastian Neußer
Archäologie des Alltäglichen
Mia Unverzagts künstlerische Arbeit erforscht die vordergründig belanglosen Dinge des Alltags. Angetrieben wird sie dabei nicht von einem formalen Interesse an Oberfläche, Farbe oder Materialqualität, sondern von ihrer Suche nach strukturellen Wechselbeziehungen zwischen Objekt, Nutzung und kulturellem Umfeld. Ein gesichtsloser Gegenstand wandelt sich im Laufe der Nutzung vom charakterlosen Massenprodukt zum unverkennbaren Einzelstück, sodass eine Analyse der Objektspuren wertvolle Einblicke in die zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen verspricht.
Erzählen nicht Gebrauchsspuren weit mehr über die Geschichte einer Nutzung als das Abbild des Nutzers selbst? Ein Stuhl ist funktionales Möbel, gefällt oder nicht, funktioniert entweder einwandfrei oder ist defekt. Ebenso wie Menschen durch Erfahrungen geprägt sind, weisen Objekte Spuren des Gebrauchs auf, die Aufschluss über ihre Objektgeschichte geben. So ist ein Stuhl nicht nur durch Materialeigenschaften und Verarbeitung, sondern auch durch klimatische Bedingungen, individuelle Nutzung und die Intensität der Pflege geprägt. Unverzagt bricht bewusst mit tradierten Positionen der Kunstgeschichte, misstraut dem Versprechen des authentischen Abbildes und sucht die Objektivität des Objektes.
Die philosophische Missachtung der Objektwelt wurzelt in einem dualistisch geprägten Weltbild, das dogmatisch zwischen Subjekt auf der einen und Objekt auf der anderen Seite trennt. So unterschied René Descartes zwischen res extensa, dem materiell ausgedehnten Körper, und res cogitans, dem nicht ausgedehnten Bewusstsein und vertiefte die erkenntnistheoretische Kluft zwischen der philosophischen Betrachtung von Geist und Körper. Geist als objektloser Gegenstand bot von jeher Anreiz zur metaphysischen Spekulation, wohingegen der Körper in seiner scheinbaren Bestimmtheit erst in jüngerer Zeit stärkere Beachtung findet. Der gegenständliche Körper aber wird weiterhin aufgrund geometrischer und physikalischer Messbarkeit vom wissenschaftlichen Diskurs vernachlässigt. An dieser Stelle wollen wir versuchen, die enge Verbindung zwischen einem Objekt, seiner Nutzung und den Nutzenden in den Vordergrund zu stellen. Hierzu müssen wir unsere egozentrische Eitelkeit zurückdrängen und den Gegenständen die Aufmerksamkeit schenken, um anschließend, mit Hilfe der objektiven Spuren, Erkenntnisse über die Nutzenden selbst zu ziehen. Diese Methode gleicht der kriminologischen Spurensicherung, die Vergangenes mit objektiver Belegbarkeit rekonstruiert.
Der Mensch wächst an positiven und negativen Lebenserfahrungen und nicht zuletzt biografische Ecken und Kanten verleihen ihm charakteristische Einzigartigkeit. Beschrittene Abwege, Krankheit und persönliche Krise mögen im Moment des Durchlebens unerträglich erscheinen, doch manchmal zeigt sich rückblickend die Gewissheit der eigenen Stärke. In vergleichbarer Weise sammeln menschliche Körper Erfahrungen und sind mit zunehmendem Alter durch Spuren des Lebens gezeichnet, die es aufzuhalten, zu reduzieren oder zumindest zu verdecken gilt. Geboren wird der Mensch, einer Idealvorstellung folgend, mit einem makellosen Körper, der wächst, sich entwickelt und gedeiht, doch bereits mit der Trennung von der Nabelschnur beginnt die Vernarbung. Absichtliche Markierung, wie zum Beispiel der burschenschaftliche Schmiss, tragen Erfahrung und Gruppenzugehörigkeit nach Außen.
Auch die leblosen Objekte des Alltags begleiten das Leben und werden durch ihre Gebrauchsspuren zu verlässlichen Zeugen des Alterns. Untersucht man diese Spuren von einem ökonomischen Standpunkt aus, so lässt sich das im Verschleiß verborgene, sozioanalytische Potenzial erkennen.[1] Eine durch sachgemäßen Gebrauch entstandene Abnutzung verspricht wenig relevante Erkenntnis, doch Spuren andersartiger Nutzung artikulieren individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse und geben objektiven Aufschluss über das tatsächliche Nutzerverhalten. Betrachten wir einen Stuhl, dessen Hinterbeine angebrochen sind, so würde ein Händler diesen Schaden höchstwahrscheinlich auf die unsachgemäße Nutzung des Wippens auf den hinteren Stuhlbeinen zurückführen. Müsste nicht aus dieser Schadensanalyse eher die Frage resultieren, ob nicht zukünftig Stühle produziert werden sollten, die durch verstärkte Hinterbeine ausgiebiges Wippen ermöglichen? Unverzagt kümmert sich aber nicht um diese marktorientierten Überlegungen, sondern setzt die Spuren des Gebrauchs in Beziehung zu den sie verursachenden, gesellschaftlichen Strukturen. Wie können wir Spuren bewerten, aktivieren, transformieren und nutzen und welche Bedeutung haben Nutzungsspuren für unsere Erinnerung?
Nur mit Unbehagen arrangieren sich vor allem westliche Industriekulturen mit den Spuren des Gebrauchs. Zufrieden wird der schimmernde Glanz eines jungfräulichen Objektes bewundert, das frei von vorheriger Fremdnutzung ist. Woher stammt diese Faszination für das Unbeschriebene? Belebte Räume und gebrauchte Objekte transportieren Erinnerungen und koppeln das Jetzt an ein bedeutungstragendes Zuvor. Erinnerung und aufgewühlte Emotion begleitet die Rückkehr an Orte der Kindheit, die aus aktuellen Lebenszusammenhängen reißen und unfreiwillig an überkommene Strukturen binden. Dieses Phänomen existiert in seiner negativen Form, genauso wie es sich im positiven Sinne an liebgewordenen Erinnerungsstücken zeigt, die eine Brücke in die Vergangenheit bauen.
Schluss mit Lebeschön verbildlicht die erdrückende Macht eines Erinnerungs-Raumes, der die Akteure den gegebenen Strukturen unterwirft. Kläglich scheitert der Versuch, sich im emotional überladenen Umfeld zu positionieren. Nackte Füße versuchen sich verkrampft vom Raumboden zu lösen, der sie mit haftender Erinnerung zurückhält. Leise flüstern die leblosen Objekte den Individuen ein So lange Du Deine Füße unter meinen Tisch stellst… zu und leugnen stur ihre objektive Seelenlosigkeit. Erinnerungs-Räume sind hybride Verbindungen verschiedener Sinneseindrücke im Moment räumlicher Wahrnehmung. Beträten mehrere Personen nacheinander einen identischen Raum und sollten anschließend die erlebten Gegebenheiten beschreiben, so blieben zweifelsohne übereinstimmende Konstanten, doch wahrscheinlich würden sich auch unvermittelbare Differenzen offenbaren. Mit Solar erweitert Unverzagt die räumliche Wahrnehmung um den entscheidenden Aspekt der inneren Sinneswahrnehmung. Räumliches Erleben ist die Verbindung von weitgehend objektiver Raumwahrnehmung und der subjektiven Aufladung des Ortes. Dieser Moment individueller Raumwahrnehmung materialisiert sich bei dieser Arbeit schemenhaft als Umriss eines Kleides vor dem Hintergrund des fotografierten Raumes. Der Erlebnis-Raum negiert die Vorstellung des authentischen Abbildes.
Formal handelt es sich bei der Arbeit Flaggen um herkömmliche Flaggen aus Stoff, doch die künstlerischen Eingriffe, sowohl inhaltlicher als auch materieller Natur, führen das System nationaler Identitätsabgrenzung ad absurdum. Kritisch-ironisch werden die Mittel politischer Machtbekundung hinterfragt, indem nicht nationale Insignien auf knitterfreiem Qualitätsstoff, sondern Fotografien abgenutzter Haushaltstücher auf gewebte Baumwolle gedruckt werden. Das Putztuch als Symbol häuslicher, traditionell meist weiblicher Arbeit, bildet ein Gegengewicht zu den Nationalfarben der meist männlich dominierten Nationalstaaten. Flaggen werden feierlich gehisst, wohingegen mit dem Haushaltstuch der schmutzige Boden gesäubert wird, den die Flagge noch nicht einmal im sauberen Zustand berühren darf. Unverzagt agiert frei im Sinne des Projektes Flagge zeigen (1994), bei dem 38 Künstler / innen mit Plakatarbeiten für Demokratie und gegen Verdrängung eintraten. Diese inhaltliche Infragestellung kollektiver Identitätsstiftung wird formal durch eine mediale Verunsicherung gestützt: Ein herkömmliches Haushaltstuch aus Baumwolle wird fotografiert und erfährt anschließend seine Re-Medialisierung auf Stoff, sodass der Blick zwischen den Falten des fotografierten Tuchs und den Falten des bedruckten Stoffes hin und her springt.
Unverzagts Fotoarbeiten verwischen die mediale Trennung zwischen fotografiertem und körperlichem Objekt, indem der glatten Fläche des Fotopapiers neue Struktur gegeben wird. Ihre Hüllen zeigen klassische Feinripp-Ware, die mehrere Unterwäsche-Generationen prägte. Spuren des Gebrauchs finden sich in den Löchern, die gleichzeitig Leerstelle und Körperabdruck darstellen. Betont werden die Zeichen der Zeit durch gestopfte Reparaturen die einerseits den Materialschwund kaschieren, ihn aber andererseits durch eine neue Textur hervorheben. Für Mia Unverzagts Archäologie sind die Flicken, Löcher, Reparaturen und Ergänzungen des Alltäglichen nicht materieller Verlust, sondern Zeugnis der menschlichen Kreativität, die auf dem Nährboden materiellen Mangels zur Entfaltung kommt.
Dr. Cora von Pape
Jenseits der Passform
Unverzagts Reise in die Zeit
In dem alten Bauernhaus ihrer Großeltern, in dem vieles erhalten ist, was anderswo die Zeit nicht überdauert hätte, fand Mia Unverzagt erste künstlerische Inspirationen. In diesem ländlichen Umfeld begann die Künstlerin über Traditionen nachzudenken, altbekannte Gesellschaftsstrukturen und Identitätsbilder aufzuzeigen und deren Gültigkeit für die Gegenwart zu hinterfragen.
Unverzagt untersucht in selbstkritischem Umgang mit den eigenen Ursprüngen überlieferte Rollenvorstellungen und Geschlechterbilder. Ausgehend von ihrem persönlichen Hintergrund und ihrer eigenen Familiengeschichte studiert sie soziale Verknüpfungen, verweist auf gewohnte gesellschaftliche Normen und zeigt Tabu-Themen unserer Gesellschaft: Alter, Zerfall und Unvollkommenheit färbt sie mit Humor und Ironie.
Als bevorzugte Motive dienen der Künstlerin dabei Objekte, die eigentlich ausgedient haben. Ihren „Flaggen“, wie Unverzagt die Reihe der Fotografien von Putz- und Staubtüchern liebevoll nennt, ist der lange und intensive Gebrauch deutlich anzusehen. Sie manifestieren die bürgerlichen Werte von Sauberkeit und Ordnung, die die Künstlerin gerne auf die Schippe nimmt: Ausgelegt auf einer sauberen Resopal-Tischplatte, gibt Mia Unverzagt diesen Putzlappen, die zuvor noch gefaltet und gebügelt sicher in einer Schublade verschwunden waren, nun ihren großen Auftritt.
Unverzagt konfrontiert den Betrachter mit Dingen, die im gutbürgerlichen Alltag gewöhnlich nicht gerne gesehen werden. Dieser ungeschönte Blick hinter die Fassade, der Fokus auf das, was darunter liegt, ist stets Mittelpunkt ihres sozialkritischen Werkes. Dabei scheut sie sich nicht, das Raue und Hässliche aufzuzeigen. Die Unvollständigkeit der Bilderreihe, die Löcher und Flecken der Flaggen und das farbliche Durcheinander, alles weist auf Fehlerhaftigkeit und Imperfektion hin.
Auch bei der Kleidung, die Unverzagt gerne zum Gegenstand ihrer Untersuchungen macht, konzentriert sie sich auf das „Darunter“ - die Unterwäsche. Kleidung als Medium in der Kunst ist für die Untersuchung der Gültigkeit überkommener Traditionen und Identitätskonzepte besonders dienlich. Als Verweissystem kennzeichnet sie nicht allein den Körper des Menschen, sondern erfüllt, vielfach kodiert, auch zahlreiche gesellschaftliche und kulturelle Funktionen. Sie unterstreicht die Identitätsvorstellungen ihres Trägers und gibt ihm psychische und soziale Individualität. Gebrauchte Kleidung kann, Spolien oder Reliquien ähnlich, zum Relikt überkommener Werte, Traditionen, Gebräuche und Moden werden. Ihr Stil, ihr Geruch, ihre Falten und andere Gebrauchsspuren bleiben stets „Identitätsspeicher“ und dienen als Spur zu einem abwesenden Menschen.
Die Kleider, die Unverzagt z.B. auf alten Dachböden auffindet, haben alle eine persönliche Geschichte, die nun erstmals zur Schau gestellt wird. Indem sie das, was eigentlich „darunter“ liegt an die Oberfläche holt und diesem erneute Nutzungsmöglichkeiten zuordnet, zeigt sie nicht nur überlieferte gesellschaftliche Strukturen und Traditionen auf, sondern experimentiert gleichzeitig mit neuen Wegen der Verwendung in der Gegenwart.
In Ihrer Arbeit „Hüllen“ zeigt Unverzagt den Körper eines jungen Mannes in einem
alten, abgenutzten und verschlissenen Feinrippunterhemd. Doch nicht der Träger ist der eigentliche Protagonist und Mittelpunkt des Bildes, denn bis auf seine Hautfarbe verraten die Fotos nicht viel über ihn. Sein Gesicht, das genaueren Aufschluss über Alter, Charakter und Gemütszustand geben könnte, bleibt völlig verborgen. Stattdessen konzentriert Unverzagt den Blick auf das, was für gewöhnlich verborgen ist, auf seine zweite Haut, ein weißes Unterhemd. Dieses traditionelle Kleidungsstück, das wohl jeden Mann der Kriegs- und Nachkriegszeit alltäglich begleitet hat, steht sinnbildlich für die Werte einer Generation, die harte körperliche Arbeit geleistet hat. Ihr Träger hat auf ihm in langen Jahren des Gebrauchs deutliche Spuren hinterlassen. Die entstandenen Löcher sind mit Handarbeit in weißem Garn säuberlich gestopft worden. Doch trotz sorgsamer Flick-Arbeit reißen die Löcher immer weiter auf und bilden gar Laufmaschen, die zur endgültigen Auflösung beitragen. Trotz aller Bemühungen kann die alte Struktur keinen dauerhaften Rahmen mehr bieten.
Die Vergänglichkeit alter Strukturen, in Unverzagts Werk allgegenwärtig, ist in ihrem Umgang mit gestrickter Kleidung besonders eindringlich. Textile Stoffe sind äußerst dankbare Materialien, die sich leicht formen und verändern lassen und sich den Dingen, die sie umgeben, besonders gut anpassen. Kaum ein anderes Material speichert Informationen - in Form von auf ihm verbliebenen Gerüchen, Falten und Ausbeulungen - so gut wie dieses. Aufgrund seiner materiellen Eigenschaften, seiner Herstellungsweise und seiner sinnlichen Besetzung, gilt es seit jeher auch als besonders „weibliches“ Material. Von Frauen hergestellt und von Generation zu Generation weitervererbt, sind gestrickte Kleidungsstücke somit ein ideales Medium zur Thematisierung von Tradition und Dokumentation von Zeit.
Handgestrickte Unterhemden wurden früher gewöhnlich schon seit dem Kindesalter von der Mutter mit auf den Weg gegeben und dienten in rauen Wintern als wärmende zweite Haut. Heute trägt in unserer Gesellschaft kaum noch jemand diese veralteten Kleidungsstücke. Den Vorstellungen des „modernen“ Menschen nicht mehr entsprechend, haben sie ausgedient und fallen dem Reißwolf zum Opfer - oder schlummern auf den Dachböden alter Bauernhäuser.
Eine aktuelle Fotoserie zeigt die Großmutter der Künstlerin, gekleidet in eines dieser handgestrickten Baumwollunterhemden. Die Spuren des langjährigen Gebrauchs sind deutlich sichtbar: an den Armen ausgeleiert und insgesamt viel zu lang, passt das wärmende Kleidungsstück nicht wirklich an den zierlichen Körper der Frau. An mehreren Stellen gestopft, hat es eigentlich ausgedient. Doch zeigt Unverzagt in diesen Bildern eine harmonische Symbiose zwischen Kleidungsstück und Trägerin Erhaben über kleine Fehler, trägt die Großmutter das Unterhemd fast wie ein Gewand. Geschmückt mit Ehe- und Siegelring, als Zeichen ihres gesellschaftlichen Status, ist die Großmutter würdevolle Vertreterin ihrer Zeit.
Einen völlig anderen Umgang zeigt eine Serie von Selbstportraits der Künstlerin in einem ehemals von der Mutter getragenen Leibchen. An allen Seiten viel zu klein, zwängt sie sich eher erfolglos in das vererbte Kleidungsstück. Da die Versuche, dem eigenen Körper damit eine angemessene Begrenzung zu bieten, scheitern, entschließt sie sich in letzter Konsequenz, das einzwängende Gewand zu zerschneiden und die Stücke der Kleidung gemeinsam mit den Fotografien als Relikt vergangener Zeit hinter Glas zu rahmen. Die Frage, wie mittels der Kleidung überkommene Traditionsstränge wieder aufgenommen, weitergeführt oder auch verändert werden und somit Strukturen für das eigene „Ich“ gefunden werden können, ist in Unverzagts Werk allgegenwärtig.
In unserer so genannten Postmoderne ist im Zuge der „Posthuman“-Debatte das Konzept des „Ich“ wieder zweifelhaft geworden. Bei der Suche nach einem fassbaren Ort der Identität wurde die Kleidung durch ihre Nähe zum Körper zu einem der wichtigsten Medien in der Kunst.
In Unverzagts Werk bietet die Kleidung keine eindeutige körperliche wie geistige Umgrenzung mehr. Sie ist weder Garant für die Gültigkeit überlieferter Traditionen noch für klare Identitätskonzepte. Gewohnte Normen und Modelle bieten nur eingeschränkte „Passform“. Kleidung ist zur durchlässigen Membran geworden, zur Schnittstelle und Kommunikationszone zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Indem sie vorgefundene und vererbte Objekte in ihrer Fragmentierung und Auflösung dokumentiert, unterwandert Unverzagt tradierte Rollenklischees und Geschlechterkonzepte. Mit zahlreichen Fehlern und Lücken behaftet, umgeht ihr Werk damit bewusst die Perfektion.
Prof. Dr. Wulf Herzogenrath
Sich treffen um...
Zu den schönsten Aussagen von Künstlern gehört der Satz: „Ich suche nicht, ich finde“ – wem auch immer er zugeschrieben wird, vielleicht beschreibt er die Grundlage künstlerischen Tuns präzis wie kaum eine langatmige Interpretation.
Doch was finden wir nicht alles während des Tages, ja, und wenn man den Satz richtig versteht, gehört auch der Traum in der Nacht ebenso in das Feld, in das sich der Mensch unabsichtlich, aber aufmerksam wahrnehmend begibt.
Wenn wir dieses Finden nunmehr auch wörtlich nehmen, in dem Sinne, dass der Künstler nicht eigentlich gestalten will, sondern Vorhandenes sieht, aufsammelt und dann zu einem Werk in neues Licht rückt, dann müssen wir dies in den ersten 1910er Jahren datieren, als Georges Braque in den Fensters eines Farbenhändlers in Avignon die Holz nachahmenden Papiertapeten entdeckt – und diese dann wiederum auf die Leinwand in seine kubistischen Bilder klebt oder Marcel Duchamp ein Urinoir um 90 Grad dreht auf einen Sockel stellt und signiert einer Ausstellungsjury vorlegt. Das „Objet Trouvé“ trat seinen Siegeszug an, und die Dadaisten waren fasziniert von naturwissenschaftlichen Maschinen. Die Surrealisten ließen sich von Leautremants Sprach-Bild „die zufällige Begegnung eines Regenschirmes mit einer Nähmaschine auf einem Seziertisch“ anregen, wie die POP-Artisten von den banalen Konsumgütern.
Ein Objekt hat es den Künstlern – ganz abgesehen von den Gestaltern, Designern, Architekten, Ingenieuren u.a. - besonders angetan: der Stuhl. Wie viel Tausende von Varianten, Materialien und Formen dies es eigentlich so funktional einfache Objekt es gibt und auch in Zukunft geben wird, es ist klar, dass ein Stuhl eben nicht nur zum Sitzen da ist. Wie jedem klar ist, dass der Tisch dann zum Stuhl wird, wenn man sich darauf setzt, so soll wenigstens daran erinnert werden, dass Germanisten das germanische Stammwort für „stehen“ im Stuhl versteckt sehen wollen, was die Definition nun wirklich nicht einfacher macht.
Das wir von der Kathedrale als „Sitz Gottes“ sprechen, belegt immerhin, dass der Stuhl als Thron zu den Insignien des Herrschers, des Richters, des Bischofs gehört – also genauso Machtsymbol sein kann, wie ein Statussymbol, ein Ausweis eines bestimmten Geschmacks. Der Stuhl sagt viel über die Psyche des Be-Sitzenden aus.
Als Mia Unverzagt während ihres Havanna-Aufenthaltes auf immer wieder neue alte Stühle stieß, die von ihren Besitzenden nicht nur mal eben benutzt wurden, sondern oftmals Teil ihres Alltags waren, war ihr Interesse geweckt. Einer der Stühle hat eigentümliche Ausbuchtungen, weil der Nutzer beim Gitarrespielen den Arm an einer bestimmten Stelle auflehnen wollte, oder der bisher eher schmale Rücken des Stuhles mit einer Verbreiterung durch einen Plastikschalen-Sitz viel komfortabler wurde. Mag manchmal auch die Armut der Besitzenden zu scheinbaren Not-Lösungen und neuen Kombinationen geführt haben, eher die Funktionalität, ja vielleicht doch auch die Assemblierung von Farben, Materialien führten zu für unsere Vorstellungen sachlicher Funktionalität skurilen Formen.
Nunmehr unterhielt sich Mia Unverzagt mit den Besitzern der Stühle, erfuhr von persönlichen Geschichten rund um die Vorleben der Stühle und begann die Kreativität der Kombinationen und gewagten Konstruktionen zu bewundern. Sie sieht ihre Arbeit nicht als soziologische Feldforschung an oder gar als politisches Statement über die Armut der einfachen Bevölkerung Havannas, sondern als eine Hommage an Phantasie und Kreativität. Vergleichbar mit einen Pablo Picasso, der einen Fahrradlenker sogleich auch als die Hörner eines Stieres sehen und in einer Assemblage umwandeln konnte – oder eben Marcel Breuer, der beim Fahrradfahren und dem gebogenen Fahrradlenker die Idee für die Stahlrohrbiegung für Stühle (den berühmten „hinterbeinlosen“ Thonet-Stuhl) hatte!
Wenn Mia Unverzagt nunmehr diese kubanischen Stühle – nach einer Präsentation in Kuba, zu der sie alle ehemals Besitzenden ebenfalls einlud – unter den Titeln „Sich treffen, um am Beispiel zu lernen“, „Sich treffen, um das Konzept zu besprechen“, „Sich treffen, um die Komposition zu verstehen“ und „Sich treffen, um über den Kontext zu diskutieren“ in europäischen Kunsträumen ausstellt, dann verfremdet sich die Aura des Stuhles allein schon durch die Tat der Künstlerin und den Kontext des „white cube“, der doch klar definierten Kunstform. So gesehen war ihre Antwort auf die eher erschreckte Frage des Zollbeamten, der diese Objekte beim Einführen taxieren sollte: „Es sind Materialien, aus denen ich später Kunst machen werde“. Die kleine Unrichtigkeit, dass die Künstlerin in ihrem Kopf sie schon längst zur Kunst gemacht hatte, sei hier verziehen, denn für den Zollbeamten konnte es so noch nicht klar sein, erst, wenn er - vielleicht auch irritiert – dieselben Objekte dann in einem Kunstkontext betrachtete.
Wenn wir auf die Kölner Möbelmesse oder in die avantgardistischen Design-Shops gehen, dann treffen wir seit einiger Zeit auf einen neuen Trend: Assemblagen recycelter Objekte, die zu neuen, nur noch im weitesten Sinne erkennbarer funktionaler Objekten umgearbeitet wurden. Zugleich erleben wir mit Staunen wie ein Glastisch von Carlo Molino aus dem Jahre 1949 bei Christies für 3 Mio Euro versteigert wurde oder Marc Newson´s „Lockheed Lounge“ (sichtbar auch in Madonnas Videoclip zu „Rain“) heute 1 Mio Dollar kostet -, vor wenigen Jahren noch für ca. 10.ooo zu haben. Hier werden Objekte, die wir bislang eher Möbel nannten, für Kunstwerke gehandelt, während Mia Unverzagt vorhandene, bis dahin auch funktionale Stühle zu Objekten einer konzeptuellen Kunst der Kommunikation verwandelt.
Jeder einzelne Stuhl dieser vier Runden erzählt in seinen Formen, Materialien und seinem Zustand Geschichten, die wir Betrachter assoziieren können, ganz abgesehen von unserer pragmatischen Rückfrage nach der Bequemlichkeit und der Funktionalität. Die Darstellung von Vergänglichkeit und Nutzformen ist hier unaufdringlich gelungen. Mia Unverzagt braucht keine soziologischen oder pädagogischen Thesen, diese Objekte erzählen von gelebtem Leben mit Witz, Phantasie, und sie schöpfen aus einer prallen Fülle, die selten so direkt und eindeutig empfunden werden kann.
Die Stühle transformieren sich und unsere Wahrnehmung von Kunst und Leben, von Gegenwart und Vergangenheit, von Funktion und künstlerischer Aktion.
Prof. Dr. Hartmut Wagner
Kittelschürzen
In ihrer künstlerischen Arbeit beschäftigt sich Mia Unverzagt immer wieder mit den gewöhnlichen Facetten unseres Alltags, der in ihrer Darstellung freilich befremdliche Dimensionen offenbart. Die dabei von ihr geschaffenen Bilder geben den Blick frei auf eine paradoxe Normalität, die behäbig scheint und doch verstörend wirkt.
Ihr Projekt „Küchenschürzen“ fügt sich trefflich in dieses paradoxe Schema der „homogenen Inkompatibilität“ ein: Eine Frau nicht bestimmbaren Alters und sozialer Herkunft hält sich in einem leeren Raum auf. Ihre äußere Erscheinung ist unauffällig: Braunes, links gescheiteltes, mittellanges Haar, kurzärmeliger Pullover, Kittelschürze, zuweilen ein Rock unter der Schürze und offene Sandalen. Der Blick der Frau geht ins Nichts. Ihr Äußeres verändert sich zwar in Nuancen von Bild zu Bild, bleibt sich aber auch auf merkwürdige Art gleich; zugleich versinkt ihre Erscheinung in einem nahezu diffusen Kontext. Die Protagonistin wirkt irgendwie abgestellt, ohne archimedischen Punkt, wie zufällig anwesend; sie vermittelt eine merkwürdige Mischung aus Melancholie und Ratlosigkeit. Ihre Umwelt bildet eine Art Niemandsland - wir erahnen einen leeren Raum in einem verlassenen Haus. Dabei fällt schließlich auch die farbliche Affinität von Tapete und Küchenschürze auf.
Die Frau wirkt irgendwie verzagt, sie verströmt nicht die mächtige Aura einer aktionsbereiten Hausfrau: Sie nestelt an der Schürze, blickt gesichtslos aus dem Fenster, wendet uns ihren Rücken zu, bewegt einmal ziellos den rechten Arm, steht an die Wand gelehnt und ist auf zwei Bildern selbst in eine an der Wand hängende Photographie integriert, wobei auch ihren verdoppelten bildlichen Darstellungen die gleiche merkwürdige Distanz, ja Absenz, eigen ist wie ihrem unmittelbarem photographischen Konterfei.
Warum wirkt die Frau nur so teilnahmslos? Bildet sie mit ihrer Küchenschürze einen Teil ihres eigenen Hintergrundes? Befindet sie sich inmitten einer Metamorphose, die sie von einem dreidimensionalen Menschen zu einem in die Tapete integrierten zweidimensionalen Phänomen mutieren lässt? Eine derartige Deutung legen die in die Bilder integrierten Bilder nahe. Das zum Bild minimierte menschliche Individuum verschwindet, der Mensch als Subjekt wandelt sich zum Objekt in einem leeren Raum. Bleibt dann nur noch die in der Küchenschürze verobjektivierte Rolle einer Hausfrau; ist dies der Preis eines Daseins als Hausfrau als ein „anachronistisch geblümtes Subjekt“ in einer „amorph geblümten Umwelt“ zu verschwinden? A woman lost in kitchen?
Nach einer Vielzahl spektakulärer Präsentationen zeigt auch ihre Bilderschau „Kittelschürzen“, dass es Mia Unverzagt gelingt, mit ihrer narrativen und assoziativen Kunst Fragen aufzuwerfen, ohne Antworten vorzugeben. Ihre Bilder sind eben nicht irreduzible Gegenstände der vor ihnen sprachlosen Anschauung, nein, sie sind vielmehr Anstöße für eine ebenso lebendige wie offene Wahrnehmungs- und Argumentationskultur; sie sind im besten Sinne des Wortes Anstöße zum Weiterdenken und damit der Aufklärung verpflichtet. Oder cum grano salis vielleicht auch mit den Worten von Pablo Picasso: „Wir alle wissen, dass Kunst nicht die Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“
Nelson Herrera Isla
Eine Deutsche in Havanna
Für uns Kubaner und Kubanerinnen sind Nachdenken und Reflektieren nicht das gleiche wie für eine Deutsche. Genauso wenig wie für jemanden aus Asien oder Afrika - auch wenn dies für manche eine Binsenweisheit sein mag. In Kuba an eine besondere Materie heranzugehen - welcher Wissenszweig auch betroffen sein sollte - bedeutet, dass über die Annäherung hinaus die Sache mit Anekdoten und Kommentaren, mit ihren Konnotationen und möglichen Bedeutungen eingekreist wird, über Vorgänger und mögliche Nachfolger diskutiert wird, über ähnliche Bedeutungen und mit der dazugehörigen Portion Humor spekuliert wird.
Den Kern einer Sache gehen wir selten direkt an, d.h. es fällt uns schwer, uns klar, präzise und diszipliniert auszudrücken. Das englische „the point is...“ ist für uns schwer einzuhalten.
So etwas gibt es im kubanischen Sprachgebrauch nicht, da wir von Haus aus spanischsprachig sind und die oben beschriebene Geradlinigkeit eher bei denjenigen zu finden ist, die in anderen Teilen der Welt erzogen worden sind, wo die erkenntnistheoretischen Fundamente viel stärker auf Vernunft und Methodik beruhen. Wir hier leben immer noch stärker unter dem Regime unserer Leidenschaften und Gefühle – wenn auch die Ratio sich immer mehr durchsetzt.
Dies alles schreibe ich, weil die junge deutsche Künstlerin Mia Unverzagt anlässlich ihrer Aufenthalte in Kuba beide Haltungen – Leidenschaft und Vernunft - in ihren Performances und Werken zusammenbringt. Immer wieder weilte sie in den letzen Jahren auf Einladung der Kunsthochschule Havanna und der Ludwigstiftung Kuba hier bei uns in Havanna und die dabei entstandenen Zeichnungen, Performances, Fotos und Installationen sind inzwischen als Kataloge veröffentlicht worden.
Es ist ihr gelungen, die soziale und psychologische Atmosphäre in der wir zurzeit leben einzufangen, diese Atmosphäre voller Wechselfälle und Blendungen in unserem Alltagsleben; sie hat teilgehabt an unseren Freuden und Frustrationen, Illusionen und Enttäuschungen – als Mitglied unserer Familien, Häuser und Viertel – was gleichsam ein wirksames Antidot ist gegen jegliches oberflächliches Herangehen an unsere Realität, welche von Ausländern so gerne missbraucht wird, um in wenigen Stunden oder Tagen unsere komplexe Existenz abzuhandeln. Sie hielt sich nicht an der Oberfläche der Musik, der Afrokubanismen, dem Mojito, den Zigarren und dem milden Klima auf, die oft genug als ausreichender „Rohstoff“ von vielen Künstlern erachtet werden, um sofort die Sympathien der Institutionen und der Sponsoren zu wecken (hier und im Ausland) um so ihre Projekte realisieren zu können.
Sie hat dagegen andere Fragmente unserer Realität gefunden, um ihre Ideen auszudrücken und ihre eigene kubanische Bilderwelt aufzubauen. Unter all den Möglichkeiten entschied sie sich für den Stuhl, dieses allgemein bekannte und unverzichtbare Objekt. Der kubanische Stuhl ist zweifelsohne eine Metapher für die Zeit in der wir leben- ein Symbol für das menschliche Durchhaltevermögen, dem Widerstand gegen das Vergessen. Der Stuhl ist bereits Teil des kollektiven Gedächtnisses, im Osten wie im Westen gehört er dazu wie die alten amerikanischen Wagen und die Sonne.
Vor der Stühleinstallation untersuchte M. Unverzagt andere Spuren, die die Zeit in Unterhemden, Hemden und in Küchentüchern hinterlassen hat (die Küchentücher hat sie „Flaggen“ genannt hat), bevor diese Objekte endgültig im Müll verschwinden. Ein Flicken nach dem anderen und die Sorgfalt, mit der sie aufbewahrt worden sind, zeugen von dieser menschlichen Eigenschaft in guten wie in schlechten Zeiten, die in der jetzigen Zeit allerdings angesichts eines außer Rand und Band geratenen Konsumrauschs völlig aus der Mode gekommen zu sein scheint. Ein deutscher Kritiker verwies immer wieder auf die deutsche Nachkriegszeit, um diese Haltung zu verdeutlichen- zu einer Zeit als die Menschen die wenigen Dinge sehr hartnäckig festhielten, die ihnen nach dem unseligen 2.Weltkrieg geblieben waren. Sie wollte in ihren Fotos die Spuren der Vergangenheit in einer bestimmten Gemeinschaft deutlich werden lassen, die Macht des affektbeladenen Bildes in uns allen, seien wir nun Deutsche oder nicht.
So könnte man sagen, dass ihr künstlerischer Diskurs eine kontinuierliche Annäherung an die komplexen Beziehungen zwischen dem Leben und der Kunst ist, so wie ihn zahlreiche andere Forscher oder Künstler unabhängig von ihrer Herkunft, Bildung oder Religion führen.
Die „kubanischen“ Stühle sind in einer Reihe mit dieser Tendenz zu sehen, die sich heute in zahlreichen Essays, Artikeln, Ausstellungen, Foren, Seminaren oder Kunstbiennalen Bahn bricht - denken wir nur an die letzte Biennale hier in Havanna. Dabei geht es um einen wichtigen Gedanken, auf den wir immer wieder zurück kommen, um darüber nachzudenken, wie diese Tendenz heute temporär durch effekthascherische und spektakuläre Diskurse außer Kraft gesetzt wird, überschattet von so vielen strukturellen und formalen Besonderheiten, so vielen interdisziplinären Überschneidungen, Treffen und Auseinandersetzungen, die die heutige internationale Kunstszene so prägen und zu einem kulturellen Überdruss führen, dessen Ästhetik zweifelhaft bleibt und wenig dazu beiträgt, die Welt, in der wir leben, besser zu verstehen.
Eie Arbeit die mir im Oeuvre Unverzagts besonders aufgefallen ist, war der verbotene raum,
D, 2002. Dafür baute Unverzagt einen Raum 4 auf 4Meter, dessen Außenwände komplett weiß gestrichen wurden und in den man nur durch eine schmale Tür hineingelangen konnte. Alle Innenwände waren dunkelrot gestrichen und an jeder Wand konnte man Reproduktionen berühmter Bilder aus der europäischen Kunstgeschichte sehen. Mit lebendigen Modellen stellte die Künstlerin diese berühmten Kunstwerke aus verschiedenen Museen nach – eine der Hauptzüge der Installation war, neben der Parodie, die z.B. das veraltete Interieur des Louvre verspottete, die Tatsache, dass alle aufgehängten Reproduktionen nackte Frauen und angezogene Männer zeigten. Diese ersetzte sie auf den von ihr inszenierten Fotos durch nackte Männer (. Diese Art der „vergleichenden Plastik“ unterzieht unsere etablierten männlich geprägten Kodizes einer Prüfung und initiiert eine Debatte über alte, doch drängende Fragen, die von der konventionellen Historiographie weitgehend unbeachtet bleiben.
Ihre künstlerischen Arbeiten sind zweifellos ein faszinierender Beitrag, wenn es unsere Aufgabe ist, die Bedeutungsgebung verschiedener Objekte in unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu untersuchen. Es ist interessant in den Werken Unverzagts die Verschmelzung von Formen und Ideen zu beobachten – ihre Positionen vermitteln eine unmittelbare Empathie mit dem Betrachter und überzeugen durch die Einfachheit ihrer Mittel. So könnte man sie durchaus einer wichtigen Strömung der zeitgenössischen brasilianischen Kunst zuordnen.
Mia Unverzagt bleibt bei ihrer Herangehensweise an die uns bekannte Kunstgeschichte und eröffnet uns so komplexe Beziehungswelten, die uns für einige Zeit viel näher sind als wir uns vorher vorstellen konnten.
Mark Twert
Kunst und Kuba
Wie in vielen anderen Aspekten spielt Kuba auch im Kunstbetrieb eine besondere Rolle. Eingepfercht zwischen zweifelhafter Che Guevara Romantik, „DDR in der Karibik“ -Stereotypen und touristischen Klischees gibt es eine sehr große Kunstszene auf der Insel, die sich von diesen Bedingungen immer wieder freimachen kann. Durch die Symbiose der eigenen traditionellen Ästhetik mit dem westlichen Kunstkanon ist eine vielschichtige zeitgenössische Kunst entstanden. Jegliche Erwartung an eine typisch kubanische Kunst, die exotisch und authentisch ist, wird jedenfalls nur für Touristen auf Straßenmärkten erfüllt. Die speziellen Bedingungen der Insellage, der knappen materiellen Ressourcen, der Revolution und des Kunstmarktes haben eine Kunst hervorgebracht, die oft lebendig und direkt ist, bei der aber die kulturellen und politischen Implikationen in den Werken meist nicht so leicht zu durchschauen sind, wie es scheint.
Die isolierte Situation einer Insel, die durch die wirtschaftliche Blockade der USA in den letzten Jahren noch verschärft worden ist, hat dafür gesorgt, dass die Trends der übrigen Welt mit einiger Zeitverzögerung in Kuba angekommen sind und dort in den letzten Jahrzehnten auch in spezifischer Weise rezipiert wurden. Seit dem Sieg der Revolution hat die Regierung unter Castro großen Wert auf eine revolutionär ausgerichtete Kulturpolitik gelegt. Allerdings hat man von Anfang an unter revolutionärer Kunst etwas anderes verstanden, als das, was etwa im Ostblock unter sozialistischem Realismus firmierte. So gab und gibt es eine unvergleichlich größere Freiheit, künstlerische Standpunkte zu vertreten; die Grenzen markiert der Kunstmarkt und in einigen wenigen Fällen die politische Führung (in Deutschland siehe hierzu z.B die Intervention von Ferdinand Pïech bei einer Installation in einer VW-finanzierten Nachwuchsausstellung).
Durch die absolute Knappheit der Ressourcen und den relativen Mangel an Materialien (es gibt sie, aber man kann sie sich nicht leisten) sind kubanische Künstler und Künstlerinnen immer wieder in der Situation, neue Wege gehen zu müssen, um doch noch zu ihrem künstlerischen Ausdruck zu kommen. Man sollte sich allerdings von der weit verbreiteten Mär hüten, dass dieser Mangel die Kreativität befördere und insofern uneingeschränkt begrüßenswert sei. Durch den Mangel an Leinwand, Farbe, Fotopapier, Strom, usw. werden mindestens genauso viele Werke verhindert, wie durch diesen Umstand neue künstlerische Ausdrucksweisen gefunden werden.
47 Jahre Revolution haben zu einer Beförderung des kulturellen Bewusstseins breiter Bevölkerungsschichten geführt. Bildende Kunst gilt nicht als exotisches Randphänomen, sondern hat in vielfacher Hinsicht eine bedeutende Stellung. Von der Regierung werden alle kulturellen Ausdrucksformen nach Kräften gefördert, da sie implizit etwas über die Leistungsfähigkeit des Landes und die Vorteile des politischen Systems aussagen. Die Künstler selbst nutzen die ihnen zugestandene Autonomie nach Kräften und sparen auch nicht mit Kritik an den großen und kleinen Alltagssorgen. Auf der anderen Seite ist der Beruf des Kunstschaffenden beliebt, da er im Falle des Erfolges Dollars einbringt (1 Dollar = 26 Peso) und so in der sozialen Skala weit oben steht. Seit in Sammlerkreisen in den 90ern die besonderen Qualitäten kubanischer Kunst erkannt worden sind, ist es zu einem regelrechten Run auf kubanische Kunst gekommen. Auch sind Stipendien eine gute Möglichkeit für kubanische Künstlerinnen und Künstler, einige Zeit ins Ausland zu gehen.
Man kann sich also vorstellen, wie vielschichtig die künstlerische Produktion und Distribution in diesem Lande ablaufen. Weder gibt es einen Grund gegen politische Gängelung zu polemisieren, die in Kuba sicher vorkommt und in ihren vielfältigen Wirkungsweisen der hier üblichen, jedoch weitgehend unsichtbaren Beeinflussung des künstlerischen Ausdrucks nur ebenbürtig ist. Noch muss man als Besucher oder Besucherin auf den ausgetrampelten Pfaden einer zum Klischee erstarrten Revolutionskunst wandeln; im Gegenteil - es gibt viel zu entdecken.
Thomas Schirmböck
Was wir auf dem Lande tun - Schluß mit Lebeschön
Ein Versuch über zwei Bilderserien von Mia Unverzagt
Was wir auf dem Lande tun.
Was wie die Überschrift einer Erlebniserzählung in der 6. Klasse klingt, ist für Mia Unverzagt Titel einer Fotoserie und ein kleines böses Stück Kunst. In 9 farbigen Fotografien, die rhythmisch von Hoch- zu Querformat wechseln, sehen wir eine kleine Geschichte zweier Protagonisten, die in diesen Bildern wirken, als seien sie in eine Ihnen fremde Situation geworfen und versuchten hierin eine Rolle einzunehmen, die nicht ganz mühelos zu bewältigen wäre.
Einige Hinweise deuten in dieser Bildergeschichte darauf hin, dass sich immerhin der Ort der Erzählung tatsächlich auf dem Lande befindet. Wir sehen einen Garten in frischem Frühjahrsgrün, mit Osterglocken und im Hintergrund das Fachwerk eines Backsteingebäude. Damit scheinen wir aber schon am Ende dessen angelangt, was „wirklich” ist.
Ein älterer Mann - „in den besten Jahren“ nennt man dieses Lebensalter gerne euphemistisch - gibt die Hausfrau, die auf den einzelnen Stationen den Gartenweg zupft, Bilderrahmen entstaubt, Kommodenplatten putzt und mit leeren Flaschen unter einem Schränkchen hantiert. Der junge Held, oder ist es eine Heldin, die den Helden mimt, steht - angetan mit Jackett, Hut und Gummistiefeln - beinahe wie der Gutsherr einer TV- Soap, im düsteren Eingang des erkennbar sehr bürgerlichen Hauses auf dem Lande. Einmal sitzt der junge Mann auch vor einer Kaffeetasse auf dem plüschigem Sofa im Wohnzimmer und scheint zu plaudern, dann wieder stellt er sich im Hof einem repräsentativen Portrait und schließlich endlich schlägt er im Stehen sein Wasser ab und hat zu guter Letzt den Toilettensitz wieder heruntergeklappt. Wenigstens das, möchte man bei all der unerträglichen bürgerlichen Tristesse rufen, die uns aus dem Werk anblinzelt. Die grausigen Tapeten, die perfekten Vorhänge, die monströsen Hässlichkeiten auf den Bildern, welche die Wände des Heims schmücken, in das wir auf einmal Einblick haben.
So spaßig mir anfangs diese Arbeit erschien, so sehr wendete sich in meinem Empfinden die dargestellte Szenerie von einer Travestie, die ich anfangs zu erkennen glaubte und immer noch in manchen Momenten sehe, hin zu einer prototypischen sozialdokumentarischen Reportage, die allerdings gefakt ist. Dies tut der Eindringlichkeit keinen Abbruch. Es spielt keine Rolle, was und ob irgend etwas wahr ist in diesem Bilderreigen. Ob dies jetzt ein schwules Pärchen ist, ob wir eine komplizierte Vater - Sohn Beziehung vor Augen haben, ob wir einen Putzmann und den Hausherrn sehen oder das oben angesprochene Spiel um Geschlechter- und Altersrollen? Mia Unverzagt macht mit diesem Bilderbogen ein rasantes Spiel um Menschen, Orte, Stil, und Wahrnehmung, dessen nächste Seite in „Schluss mit Lebeschön“ aufgeschlagen wird. Mutmaßlich in der selben Wohnung findet das rätselhafte Treiben einer Gruppe von drei Personen statt. Drei Frauen in Hosen unternehmen – stets barfuß – vollkommen unverständliche Handlungen. Sie liegen auf dem Boden, ziehen sich am Wohnzimmerschrank hinauf, verbergen die Augen vor einer Heimorgel sitzend mit der Schutzdecke: So wie sich Kinder der Wand zuwenden und der festen Überzeugung sind, auf diese Weise unsichtbar zu werden, wie Erwachsene die Hand vor Augen halten, wenn der sichtbare Teil der Wirklichkeit zu schlimm oder schwer wird, um ihn noch länger ertragen zu können.
Mia Unverzagts Protagonisten scheinen nicht länger in der Lage, bleiben zu können, in all der hybriden Häßlichkeit, wie etwa dem Krankenlager mit seinem Galgen. So schlagen sie sich denn unters Bett, nur die Beine mit den nackten Füßen lugen unter Ihnen hervor und ich beginne zu grübeln, weshalb die Füße nackt sind und wofür sie stehen. Manche der Szenen meine ich aus archaischen Geschichten zu erinnern, etwa „Der Wolf und die sieben Geißlein“, wo all die jungen Ziegen sich verstecken wollen, als der böse Wolf die Wohnung entehrt. Nur jenes, das sich im Uhrenkasten versteckte, konnte anschließend den Lauf der Zeit(!) wieder in Ordnung bringen. Hier allerdings rettet niemanden eine Standuhr, es kann keine Rettung geben, weder für die Protagonisten der Foto-Novela, die wir hier sehen, noch für die Betrachter selbst.
Was wir in „Schluß mit Lebeschön“ sehen, ist in seinem narrativen Aspekt radikaler als „Was wir auf dem Lande tun“. Es existiert keine erzählerisch bindende Klammer, lediglich mit der Kraft unserer Assoziationen können wir in dieses Tableau eintauchen. Die Beziehung der drei Frauen zu der Wohnung, in der sie agieren erscheint massiv gestört. Fern aller Konventionen agieren sie in den schwer zu deutenden Bildern als Eindringlinge, die gleichwohl eine gewisse Vertrautheit zum Ort und vor allem dem genius loci entwickelt zu haben scheinen.
Mit einem Augenzwinkern konfrontiert uns die Künstlerin mit der Erkenntnis, dass das Leben unerbittlich fortschreitet, dass Orte, die für die einen Heim und zu Hause sind, für die anderen Orte seelischer Qualen sein können. Spiel und Radikalität in einer zutiefst sinnlosen und verzweifelten Welt scheinen manchmal den einzigen Weg in die Freiheit zu öffnen.
Beide Serien von Mia Unverzagt sind schnell. Sie sind schnell entstanden, sie sind schnell konsumierbar und sie nisten sich rasch in unserer Gedankenwelt ein.
So befremdlich die Handlungen anfangs auch scheinen, so alltäglich ist die Umgebung in der sie entstanden sind und so normal sind die Handlungen auf den zweiten Blick. Denn natürlich hat schon jeder einmal halb unter einem Bett gelegen, hat sich jeder schon einmal unter einem Tisch gefunden, hat auf einen Schrank gesehen und auf allen Vieren auf dem Fußboden gekniet. Die stupende Verknüpfung der Szenen allerdings macht uns die Absurdität des Lebens und Handelns bewußt. Elegant kombiniert Mia Unverzagt in beiden Serien die Leichtigkeit ihres Erzähltalentes mit ihrem rauhen, direkten Stil die Erzählung visuell umzusetzen: ihr Stil ist keinesfalls nur eine Frage der äußeren Form.
Frigga Haug
Verbotener Raum
Eindeutig in Ort und Zeit gibt der Titel eine Auskunft, die der verfremdenden Enthüllung der Bilder und der Akteure beiderlei Geschlechts widerstreitet, bzw. sie nicht wirklich trifft. Denn was tut Mia Unverzagt wirklich mit ihrer Verstellung und Ver-drehung des Gewohnten? Sie spielt in Geschlechterverhältnissen auf respektlose Weise. Der Respekt wird den Kunstwerken verweigert, wie dem gewohnten Blick auf weibliche Nacktheit, männlich bekleidete Betrachtung. Sie betritt damit ein feministisch besetztes Gelände, welches von ihr ebenso respektlos unterwandert wird. Wir kennen die Analysen, die vom männlichen Blick sprechen, vom weiblichen Körper, der zur Schau gestellt ist, wobei jeweils die Frauen den Blick wegdrehen müssen, um anzuzeigen, dass sie Objekt sind des Blickes, des Wunsches, des Begehrens von Männern. Anbetende Demütigung des Weibes, in diesem Paradox sind die weiblichen Akte gewöhnlich gefangen. Das erfährt eine Zuspitzung, wenn die betrachtenden bekleideten Männer zur weiblichen Nacktheit ins bild steigen und dort eine Beziehung zum weiblichen Objekt aufnehmen, Lüsternheit zeigen oder Gleichgültigkeit, sich beiher beschäftigen oder so tun, als ob das Gefälle zwischen dem bekleideten und dem unbekleideten Körper keines der Macht wäre.
Jetzt greift Mia Unverzagt ein, zunächst durch eine einfache Umkehrung. Bekleidet sind anschauende Frauen, nackt präsentieren sich männliche Körper. Der Effekt ist verblüffend, ist eine Provokation. Denn auf den ersten Blick schon sieht man, dass es in den Geschlechterverhältnissen keine einfache Umkehrung geben kann. Die nackten Männer, so sehr sie mit ihrer Nacktheit auch uneins sind, treten jedenfalls nicht als bloße Objekte auf, sondern bleiben Subjekte ihrer Handlung, bloß eben nackt. Sie müssen sich selber ausstellen. Das macht sie nackter, als es die Frauen waren. So wirken sie zunächst einmal lächerlich. Die bekleideten Frauen dagegen lassen den verfügenden Machtblick vermissen, d.h. sie steigen häufig gar nicht vollkommen aus der gewohnten Objektrolle heraus.
In dieser Weise werden Darsteller und Betrachter in die Handlung, die das Bild ausmacht, allseitig verstrickt. Man wird mit seinen gewohnten Vorurteilen in eine Veränderung hineingezogen, bei der man selbst nicht unverändert bleiben kann. So etwa muss die spontane erste Frage: „Sind nackte Männer nicht vergleichsweise lächerlich?“ auf den Prüfstand. Wir, die wir so empfinden, sind also Teilhaber an gewohnten erniedrigenden Verhältnissen, dass wir nicht einmal versuchsweise Machtbeziehungen umkehren können in unseren Wahrnehmungen und Gefühlen.
Die Bilder sind aufrührerisch. Sie sollten in Seminaren und Gruppen gemeinsam betrachtet und eine Diskussion über Wahrnehmungen, Empfindungen, Kränkungen, Gelächter und mögliche Veränderung angezettelt werden.
Prof. Dr. Dr. Rainer Hudemann
Strasse des 13. Januar
Ratlosigkeit beim Betrachten dieser Straße des 13. Januar, dann Wut über Gedankenlosigkeit im Land, bald zugleich das Erkennen, mit künstlerischen Mitteln das Problem zwar aufdecken, doch auch nicht bewältigen zu können: Mia Unverzagt ist tief betroffen, sie klagt an, aber sie ist in aller Anklage bescheiden im Anspruch dessen, was sie als Künstlerin beizutragen vermag. Das macht sie um so überzeugender in ihrer Suche danach, wie man mit der Vergangenheit umgehen kann. Aufrüttelnd in ihrem Aufruf gegen Gedankenlosigkeit.
Daß ihr Aufruf notwendig ist, zeigen allein schon die Leserbriefe, von denen manche in der Selbstgerechtigkeit eine allzu einfache Antwort suchen. Eine vielleicht verständliche Antwort, geht es doch um die eigene Jugend oder um die Toten in der eigenen Familie. Und doch eine unzureichende Antwort. Denn natürlich wußte man um die Jahreswende 1934/35 viel mehr über den Nationalsozialismus als im Januar 1933. Erst recht an der Saar, wo die Presse noch viel freier war und gerade darüber im Abstimmungskampf täglich und öffentlich erbittert gestritten wurde. "Im Reich" war das schon längst nicht mehr möglich.
Wie viele haben Hitler und sein Regime dennoch unterschätzt? Wie viele verschlossen aus nationalen Beweggründen die Augen vor der Unterdrückung in Deutschland seit 1933, und wie brachten sie das fertig? Wie viele haben im Bewußtsein der in Deutschland begangenen Verbrechen für die Rückgliederung gestimmt? Welche Wirkung hatte es, daß an der Saar durch die Völkerbundsverwaltung und die oft sehr ungeschickt vorgehende französische Grubenverwaltung so viele Konflikte, die "im Reich" innenpolitische oder soziale Konflikte waren, in nationalen Gegensätzen ausgetragen worden waren? Wie viele Saarländer hat das anfälliger für Hitlers "nationale Revolution" gemacht? Oder blind für ihre Wirklichkeit? Mit "links" und "rechts" hatte das nur teilweise zu tun - ganz unterschiedlichen politischen Tendenzen gehörten diejenigen an, die der 13. Januar zur Flucht zwang.
Mia Unverzagt beansprucht nicht, die Antworten zu haben. Aber sie hat recht zu fragen. Als Künstlerin hat sie mit ihren Mitteln - auch das zeigen die Briefe - schon mehr aufgerüttelt, als manches Buch es vermochte. Mit der in Deutschland so gern geübten Straßenumbenennung wäre es nicht getan. Tatsächlich verbergen sich hinter der Selbstgerechtigkeit auch nach über sechs Jahrzehnten noch die besonderen Schwierigkeiten einer Grenzlandbevölkerung. Die Diskussion über Mia Unverzagts künstlerischen Versuch läßt sie in Wirklichkeit überscharf hervortreten.
Respekt vor dem Engagement der Künstlerin. Respekt vor ihrer Suche nach neuen Ausdrucksmitteln für letztlich vielleicht unlösbare Probleme und Frage
Carina Herring
Rechts sind die Haare kürzer
Die Glatze unter Generalverdacht
Die Kahlrasur scheint als immerwährendes Klischee und Zeichen für rechtsradikale Gewaltbereitschaft von Bestand. Zwischen Sträflings- und Soldatenfrisur gehört sie in Verbindung mit anderen Insignien (Tätowierungen, Piercing, Abzeichen) zu einem visuellen Repertoire, das eng mit der Vorstellung politischer Extreme verflochten ist und immer noch mit erstaunlicher Eindeutigkeit funktioniert. Trotz des Verlustes klarer Zuordnungen von Moden, Kultmarken und Frisuren herrscht ein implizites Einverständnis darüber, was die visuellen Codes der rechten Szene sind und wie sie zu erkennen ist.
Diese visuellen Codes und ihre undifferenzierten Klassifikationsmuster stellt Mia Unverzagt in ihrer Arbeit "wir wissen nichts" subtil zur Disposition. In der Nische eines Treppenabsatzes der Hochschule für Bildende Künste in Saarbrücken installiert sie 1999 ein sparsam eingerichtetes Interieur, das abseits der Hauptroute des Rundgangs liegt. Teils geschützter Schrein, teils offene Situation, schwebt dieser Raum in einer merkwürdigen Ambivalenz zwischen Aufdeckung und Geheimnis, zwischen öffentlich und privat. Dass der flüchtige Blick in das Zimmer nichts zu sehen gibt oder dass man gar unbemerkt an ihm vorüber gehen könnte, ist kalkuliert.
In vordergründiger Ereignislosigkeit steht dort ein Bett aus hellem Kiefernholz mit Blümchenbettwäsche in fröhlichen Farben auf einem gewöhnlichem Teppich. Die Bettdecke ist aufgeschlagen, wirkt einladend. Ein wenig spricht daraus der Mief eines spießigen Heims, besonders dort, wo Bilder aus alten Spieldosen, einem deutschtümelnden Andenkenskult huldigen. Indem man unsicher in diese Intimität eindringt, macht sich Unbehagen breit, wird die Stille unangenehm und provozierend. Und plötzlich verkehrt sich die heile Blümchenwelt in ein konfrontatives Szenario, kippt das private Schlafzimmersetting in eine geheime Obsession: Denn die Unterseite der Bettdecke entblößt unter schwarz-rot-goldenen Streifen eine Hakenkreuzfahne.
Spätestens jetzt ist der Betrachtet komplett involviert, hin- und hergerissen zwischen Lachen und Entsetzen, Neugier und Distanzhaltung. Fotos, auf dem Fußboden verstreut, scheinen den wachsenden Verdacht zu bestätigen. Sie zeigen das Porträt eines kahlrasierten Menschen mittleren Alters, und sofort setzt die Gewissheit ein: Wir befinden uns in der getarnten Bürgerlichkeit eines radikalen Skins. Unwillkürlich gleitet der Blick unters Bett auf der Suche nach weiterer Untermauerung des Verdachts, sucht Bomberjacke und Springerstiefel - doch diese sind nicht zu finden. Und es ist gerade ihre Absenz, die die Bedeutung des Arrangements so unerträglich in der Schwebe hält und das starkem Bedürfnis nach Eindeutigkeit verwehrt.
Im Vertrauen auf die Fähigkeit zur Rezeption und auch zum Missverständnis, setzt Mia Unverzagt auf die politische Wirksamkeit der Kunst. Sie befragt die legitimierende Funktion von Bildern und spielt gezielt mit den psychologischen Mechanismen, die hinter medial-kodierten Stereotypen und Phantasien stehen. Die Verunsicherung ihrer Installation ist insofern produktiv, als sie bewusst macht, dass es sich um fragwürdige Konstruktionen und Zuschreibungen handelt, und man erschrickt erneut über die eigene Evidenz, wenn man erfährt, dass der kahlrasierte Schädel der Künstlerin selbst gehört - das allerdings konnten wir nicht wissen.
Prof. Dr. Hartmut Wagner
Bitte mach ein Mädchen aus mir
Heute sprechen selbst Feministinnen vom Post-Feminismus, andere, wie etwa die kanadische Künstlerin Nancy Paterson, sehen uns gar in eine technische Ära des Cyberfeminismus hineingleiten, welcher „Frauen die Chance bietet, aus vorgegebenen Rollen auszubrechen“. Dagegen setzt Mia Unverzagt mit ihren Installationen auf den ersten Blick auf eine eher konventionelle feministische Sicht. Man fühlt sich an Simone de Beauvoirs berühmtes Diktum erinnert: „Man wird als Frau nicht geboren, man wird dazu gemacht.“ Doch Mia Unverzagts rosa überzuckerter Mädchenkosmos ist keineswegs eine melancholische Hommage an eine für manche vielleicht verblichene Utopie. Vielleicht weil sich für sie die berechtigte Frage erhebt, warum der Satz Beauvoirs nach fünfzig Jahren seine Aktualität eingebüßt haben soll.
Ihr ästhetisches Konzept besticht gerade deshalb, weil sie sich jenseits des „Mainstreams“ an festen Überzeugungen abarbeitet. Es ist zum einen eine ironische Verweigerung, die in „Bitte mach ein Mädchen aus mir“ mitschwingt, die eine selbstbewusste junge Künstlerin zeigt, die sich mit politischen und ästhetischen Schematisierungen nicht arrangieren will. Es ist zum anderen auch die abgründige Dialektik zwischen alten und proto-religiösen Elementen einer Domestikation des Weiblichen, die sie spielerisch versucht einzufangen.
Ihre Exponate sind heiter und höhnisch, voll entwaffnender Selbstironie und beißendem Spott, sie erschaffen die paradoxe Atmosphäre einer durch Kitsch und Puppenstubenseligkeit vermittelten Einsicht. Mit anderen Worten: Mia Unverzagt bedient sich der besten Ingredienzien einer kommunikativen und subversiven Kunst, die sich an der Selbstdarstellung nicht berauscht, die nicht in einem künstlerischen Solipsismus ihre Erfüllung findet, sondern die Kunst als Auftrag zur Einmischung begreift, die ästhetische Aufklärung beim Wort genommen wissen will. Ihre Installationen geben den Blick frei auf eine behäbig gefräßige Normalität, die sich zugleich in ihrer plakativen Überhöhung konterkariert. Sie zeigt uns, dass es nur aus Kitsch und Ritus, Schein und Ideologie bestehender Schaumteppich ist, der unsere auf Schönheit fixierte alltagsweltliche Oberflächenästhetik zusammenhält. Und mit dieser Kritik schlägt sie trotz aller spielerischen Ironie einen Bogen zu einer gedankenstrengen Philosophin wie Simone de Beauvoir und deren Credo: „ Der Mensch ist frei geboren.“
Samuel Herzog
Kräftemessen in der Brandungszone
Eine Anmerkung zu den Zeichnungen von Mia Unverzagt
In Zeichnungen können Aspekte eines Menschen Bedeutung bekommen, die das Licht anderer künstlerischer Medien eher scheuen. So ist es auch im Fall der Zeichnungen von Mia Unverzagt, die sie selbst die andere Seite ihres Schaffens nennt, den dunklen Teil ihrer sonst sehr von der Idee kommenden Kunst.
Die Aspekte, die da Bedeutung wollen, lassen sich durch Worte nicht ersetzen – es sind Ängste oder Aggressionen, Verletztheiten, Verliebtheiten und andere Zustände der Seele, wie sie tief in jedem von uns wurzeln. Auch in den Zeichnungen allerdings treten diese Aspekte nicht mit Eindeutigkeit auf. Es scheint vielmehr, als müsse jeder Schritt in die Sichtbarkeit durch eine entgegengesetzte Bewegung auf - oder vielmehr abgefangen werden - eine Bewegung die wieder verunklärt, was eben deutlich zu werden drohte.
Nehmen wir zum Beispiel ein Blatt, das am 19.Februar 2000 entstand. Vor einem Grund, den mit Bleistift oder Kohle verschmierte Finger aufgewühlt haben, tritt uns in Umrissen eine Halbfigur entgegen: an der Stelle ihres Gesichts allerdings sitzt ein schwarzer Fleck. Ein zweiter, länglicher und eben so dunkler Fleck, ragt auf Brusthöhe der Figur vertikal aus dem Nichts empor. Es scheint, als betrachte die Figur den länglichen Fleck mit großer Aufmerksamkeit. Zumindest lässt ihre leicht vorgebeugte Haltung eine solche Vermutung zu.
Einst mag da ein Gesichtsausdruck sichtbar gewesen sein, der uns etwas über das Verhältnis der Figur zu dem Ding vor ihr hätte verraten können – jetzt aber ist alles hinter einer Maske verborgen. Sind wir hier Zeugen eines freudigen Zusammentreffens? Oder beobachten wir einen Vorgang der Ansteckung, sind doch das Ding und das Gesicht gleichermaßen schwarz?
Haben wir es mit einer Begegnung in einem Traum zu tun? Oder mit der Illustration einer uns unbekannten Legende? Auf irritierende Weise wirkt die Darstellung symbolhaft – und doch können wir nicht sagen, was sie denn symbolisiert. Hier wird allerlei gezeigt – und doch nichts verraten.
Auch auf einem Blatt, das vom 20. Juni 2001 datiert, sehen wir wohl ein Gesicht, dessen Ausdruck sich hinter allerlei Formen verbirgt. Im Unterschied zu der früheren Zeichnung allerdings sind diese Formen hier wesentlich komplizierter und bestehen aus einer Vielzahl von Strichen in unterschiedlichen Farben. Auch scheint da aus der rechten Hälfte des Gesichts
Eine Figur heraus zu wachsen, die ein wenig wie ein aufrecht stehender Löwe, ein Bär oder auch ein Affe wirkt. In die linken Hälfte des Gesichts wiederum ragen Elemente hinein, die eher an Landschaften oder an seltsam fremde Körper erinnern. Schien das Blatt aus dem Vorjahr eher ein Moment unmittelbar vor dem Zusammentreffen verschiedener Elemente zu zeigen, so hat der Kontakt hier schon stattgefunden, sind die Dinge längst aufeinander geprallt, ineinander verkeilt. Diese Zeichnung erinnert an jene Momente im Leben, in denen sich keine Hierarchien in unseren Gedanken bilden, in denen uns alle gleichermaßen bedeutend oder auch banal erscheint. Da taucht eine Idee auf um sogleich von einem anderen Bild überdeckt zu werden – dort folgen wir einer Spur, um uns alsbald in die Gegenrichtung mitreißen zu lassen. So unfruchtbar uns solche Momente manchmal auch erscheinen – in dem Nest, dass wir im Zickzack unserer Gedanken häkeln, können plötzlich auch Dinge sichtbar werden, die wir bei klarem Gedanken-Wetter nicht zulassen würden. Denn so wie wir uns vielleicht nur in Gesellschaft von Freunden in ein fremdes Land vorwagen, so wagen sich auch einige Aspekte unserer Persönlichkeit nur in maskierter Form und in Begleitung vieler anderen Aspekt aus dem Dunkel des Verdrängten in das Licht unserer Gedankenwelt.
In vielen Zeichnungen von Mia Unverzagt schaffen die Striche und Gegenstriche die Setzungen und Übermalungen eine solche Gesellschaft, in der sich Dinge vorwagen können, die sonst unsichtbar bleiben müssten. Wie erwähnt heißt das nun keineswegs, dass die Zeichnungen ein gleißendes Scheinwerferlicht auf diese lichtempfindlichen Aspekte menschlichen Daseins werfen würden.
Im Gegenteil: was allzu deutlich werden will, was am Strand der Eindeutigkeit aufzulaufen droht, muss wieder in den Ozean des Vieldeutigen hinausgezerrt werden.
Was beleibt, ist eine Spur dieses Kräftemessens im Brandungsbereich – eine den Zeichnungen immanente Spannung, die uns eine Ahnung von den Polen gibt, zwischen denen sie sich entwickelt hat.
Prof. Dr. Dr. Rainer Hudemann
Strasse des 13. Januar
Ratlosigkeit beim Betrachten dieser Straße des 13. Januar, dann Wut über Gedankenlosigkeit im Land, bald zugleich das Erkennen, mit künstlerischen Mitteln das Problem zwar aufdecken, doch auch nicht bewältigen zu können: Mia Unverzagt ist tief betroffen, sie klagt an, aber sie ist in aller Anklage bescheiden im Anspruch dessen, was sie als Künstlerin beizutragen vermag. Das macht sie um so überzeugender in ihrer Suche danach, wie man mit der Vergangenheit umgehen kann. Aufrüttelnd in ihrem Aufruf gegen Gedankenlosigkeit.
Daß ihr Aufruf notwendig ist, zeigen allein schon die Leserbriefe, von denen manche in der Selbstgerechtigkeit eine allzu einfache Antwort suchen. Eine vielleicht verständliche Antwort, geht es doch um die eigene Jugend oder um die Toten in der eigenen Familie. Und doch eine unzureichende Antwort. Denn natürlich wußte man um die Jahreswende 1934/35 viel mehr über den Nationalsozialismus als im Januar 1933. Erst recht an der Saar, wo die Presse noch viel freier war und gerade darüber im Abstimmungskampf täglich und öffentlich erbittert gestritten wurde. "Im Reich" war das schon längst nicht mehr möglich.
Wie viele haben Hitler und sein Regime dennoch unterschätzt? Wie viele verschlossen aus nationalen Beweggründen die Augen vor der Unterdrückung in Deutschland seit 1933, und wie brachten sie das fertig? Wie viele haben im Bewußtsein der in Deutschland begangenen Verbrechen für die Rückgliederung gestimmt? Welche Wirkung hatte es, daß an der Saar durch die Völkerbundsverwaltung und die oft sehr ungeschickt vorgehende französische Grubenverwaltung so viele Konflikte, die "im Reich" innenpolitische oder soziale Konflikte waren, in nationalen Gegensätzen ausgetragen worden waren? Wie viele Saarländer hat das anfälliger für Hitlers "nationale Revolution" gemacht? Oder blind für ihre Wirklichkeit? Mit "links" und "rechts" hatte das nur teilweise zu tun - ganz unterschiedlichen politischen Tendenzen gehörten diejenigen an, die der 13. Januar zur Flucht zwang.
Mia Unverzagt beansprucht nicht, die Antworten zu haben. Aber sie hat recht zu fragen. Als Künstlerin hat sie mit ihren Mitteln - auch das zeigen die Briefe - schon mehr aufgerüttelt, als manches Buch es vermochte. Mit der in Deutschland so gern geübten Straßenumbenennung wäre es nicht getan. Tatsächlich verbergen sich hinter der Selbstgerechtigkeit auch nach über sechs Jahrzehnten noch die besonderen Schwierigkeiten einer Grenzlandbevölkerung. Die Diskussion über Mia Unverzagts künstlerischen Versuch läßt sie in Wirklichkeit überscharf hervortreten.
Respekt vor dem Engagement der Künstlerin. Respekt vor ihrer Suche nach neuen Ausdrucksmitteln für letztlich vielleicht unlösbare Probleme und Frage
Rick Takvorian
Die Performerin als Touristin, dieTouristin
als Heldin (?) ... und umgekehrt
Mia Unverzagt ist eine Künstlerin, deren in den vorliegenden Episoden vorgestellte Arbeit eine Lücke füllt, die zwischen den aufgeführten Bildern, die vom Stoff der klassischen Antike bis zur zeitgenössischen Performance reichen, und der live art seit der Jahrhundertwende entstanden ist. Wir werden mit seltsam disparaten Figuren und in Szenen eingebetteten Bildern konfrontiert, die sich – gemäß den Überzeugungen der Künstlerin – einer linearen Struktur verweigern und jeglicher eindimensionalen thematischen Interpretation widerstehen. Natürlich ist damit nicht etwa ein Mangel an Struktur gemeint, sondern vielmehr werden durch verschiedene Assoziationen organischere Muster gezeigt und in Verbindung zu den Vorläufern eines großen Teils der zeitgenössischen Kunst gebracht – dem Ritual.
Wie Lévi-Strauß bereits zeigte, zersetzen Riten und Mythen Ereignisstrukturen und setzen sie wieder zusammen. Sie benutzen sie als unzerstörbare Elemente für strukturelle Muster, in denen sie entweder als Mittel oder als Ziele fungieren. Ich vermute, dass es im vorliegenden Falle genau darum geht. Eine Performerin mit Augenbinde, auf die außen Kinderaugen gedruckt sind, läuft durch die Straßen von Havanna. Auf einmal fühlen wir uns zurückgeworfen auf den Ödipus von Sophokles, der erst blind werden musste, bevor er sehen konnte, was alle anderen schon lange sehen konnten. Gleichzeitig ist die untergründige Wahrheit, die durch die Kinderaugen offensichtlich wird, überall zu fühlen. Doch die Performerin, und damit die Performance, werden nur durch die Interaktion mit der Öffentlichkeit bestimmt. Sie ist eine „Ausländerin“ wie der thebische König einer war. Eine Touristin – genauso wie Kolumbus ein Tourist war – und war nicht Odysseus der größte aller Touristen? Der schwierige Drahtseilakt zwischen Theaterfigur, Suchender, Ausländerin und Touristin – der Touristin letztlich als Heldin – durch Fotos von Touristen, die auf Podesten stehen, gelingt wunderbar. Sie stehen auf den golden gesprayten Podesten wie Skulpturen griechischer Gottheiten im Louvre. Genau richtig positioniert in der Balance zwischen klassischer Haltung und Kitsch. Doch die magischen und heroischen Kräfte des olympischen Helden und Abenteurers sind ersetzt worden durch die Kraft des allmächtigen Dollars.
Diese Arbeiten sind Kompositionen, die aktive Zuschauer und die Einmischung und Konfrontation von diesen brauchen – und das stellt sie eindeutig in die Tradition der Performanceavantgarde. Die Konfrontationsmethoden der italienischen Futuristen brachten diese unter die Zuschauer und dadurch wurde ihr angeblich „immuner“ Hafen in einen Performanceraum verwandelt. Die Methode, die direkte Konfrontation mit der Öffentlichkeit zu suchen, fand ihr Echo in den Performances der Dadaisten, zuerst in Zürich, später in Paris. Und so weiter bis zu den Experimenten in den 60er Jahren und danach. Doch glücklicherweise werden diese Konfrontationselemente in Unverzagts Arbeit nicht einfach wiederholt, sondern einbezogen mit einer selbstlosen Ehrlichkeit, Humor und dem Willen zur Nachforschung, die eine Assoziation nach der anderen nach sich ziehen. Fragen, Fragen und nochmals Fragen – sie sind viel wichtiger und enthüllender als bereits im vorhinein feststehende Antworten. Das Episodische, das Don Quixotische, das Odysseushafte – wie immer Sie es nennen wollen – ist die ideale Form für diese scheinbar unverbundenen Fragmente. Durch die Verbindung verschiedener Elemente entsteht eine neue, andere Struktur, die aus sich heraus in den Gefilden einer von Performance bestimmten Welt ihre Legitimität bezieht.
Gerhard Glüher
Flaggen
In den späten 50er Jahre malte der Amerikaner Jasper Johns die Flagge seines Heimatlandes in diversen Variationen und provozierte die Frage nach der Repräsentationsmöglichkeit von Bildern überhaupt.
Die inzwischen ebenso legendäre wie historische Frage “Is it a flag or is it a painting?“ zielt letztlich auf die Identität des Bildes. In den Flaggenbildern sind Bildgegenstand und Bild deckungsgleich geworden.
Johns thematisierte in den Flaggenbildern die Kluft zwischen Zeichen und Objekt, er führt die Widersprüchlichkeit von Kunst und Leben vor. Mia Unverzagt wechselt das Medium und benutzt die Fotografie. Vor fotografischen Bildern haben bereits so berühmte Philosophen wie Roland Barthes kläglich versagt mit der Behauptung, dass Fotos bereits das Repräsentierte sind. Dass dies beileibe nicht so ist, führt die Künstlerin hier in hintergründiger und amüsanter Weise vor. Fotografische Bilder haben meistens eine glatte, technische Papier- (bzw. Plastik) Oberfläche, die dem Blick keinen Widerstand bietet. Wir dringen visuell in das Bild ein und treffen dort auf wiedererkennbare Gegenstände, ohne dass wir das Medium selbst bemerkt haben.
Mia Unverzagt bietet uns wenig poetische Spüllappen als Objekte der Neugierde an, deren nicht verstandene mondrian’sche Linienkomposition und brachiale bauhäuslerische Farbwahl uns als feinsinnige Ästheten angewidert abwenden lässt. Doch plötzlich bemerken wir die Verdoppelung der Oberfläche und der Lappen verschmilzt mit der Resopalplatte, auf der er liegt. Das Tuch wird zum Bild und das Bild selbst ist auch ein Tuch. Somit stellt das Bild nichts dar, außer sich selbst und verweist dennoch auf eine Welt außerhalb seiner selbst. Dies ist sehr gut daran zu beobachten, dass die ehemals realen Faltungen und Knicke der Küchentücher in den Fotografien zum Schein und zur Täuschung werden, wogegen die harte und glatte Arbeitsplatte sich in ein real geknicktes und unebenes Foto verwandelt. Jasper Johns Frage stellt sich erneut: “Ist es ein Objekt, oder ist es eine Fotografie?“
Dr. Gerhard Glüher
Hüllen
Um diese Fotos von Hemden verstehen zu können, muss ich mühsam in eine Zeit zurückblicken, die ich selbst nicht erlebt habe – es ist also eine Reflexion zweiten Grades, wenn man so will. Der erste Eindruck ist derjenige des Schutzes, der fadenscheinig geworden ist. Denken wir über den Typus dieser Kleidung nach. Er repräsentiert weder Mode noch Design, sondern Funktionalität und Schutz. Solche Hemden sind keine T-Shirts im modernen Sinne, sondern Unterwäsche – „Wäsche“ eben, in der veralteten Bedeutung des Wortes. Kleidungsstücke, die direkt auf dem Körper getragen werden, unmittelbar auf der Haut, und vor allem vor den intimen Zonen des Körpers. Sie verdecken die peinlichen Blößen und kleiden dennoch neutral, ohne selbst als Kleidungsstücke auffallen zu wollen. Diese Hemden verrichten still und pflichtbewusst ihre Aufgaben, so wie einst ihre Träger die täglichen Mühen auf sich nahmen. Diese Hemden waren Massenware, die täglich gewechselt wurde, in Waschkörben gesammelt und dann in großen Eisenkesseln eingeweicht, gekocht und geschrubbt. Diesen Hemden wurde nichts geschenkt, sie hatten zu funktionieren und lösten sich auf. Da sie fast nie zu sehen waren, wurden sie repariert, die Löcher ausgebessert. Dies war eine alltägliche Verrichtung. Das Stopfen der Löcher ist heute zumindest in wohlhabenden, westlichen Gesellschaften nicht mehr üblich.
Wer hat gestopft und wann wurde gestopft? In Zeiten, in denen die Kleidung noch teuer oder wertvoll war, in Zeiten, in denen es kaum Kleidung gab, in Regionen, die fern von den zivilisatorischen, urbanen Möglichkeiten des täglichen Einkaufens und des Warenangebotes waren, wenn ein Kleidungsstück dem Träger sehr lieb geworden war und er es so lange wie möglich erhalten wollte - egal wie es äußerlich aussah. Stopfen war Frauenarbeit, genauer gesagt Mütter- und Großmütterarbeit. Stopfen ist eine handwerkliche Technik, zu deren Ausübung man Geschick, technisches Wissen und die Utensilien Stopfgarn, eine Stopfnadel und ein Stopfei bzw. einen Stopfrahmen brauchte. Wie alle bürgerlichen weiblichen Handwerkstechniken wird auch das Stopfen heute nicht mehr ausgeübt und ist daher eine Tradition, die dem Vergessen und Verschwinden zum Opfer fällt. Diese Handarbeit ist eine schon beinahe kunsthandwerkliche Technik, die über viele Generationen durch Nachahmung tradiert wurde und wie allen dörflichen Handwerkstraditionen, an der Dauer, an der langen Erhaltung der Dinge ausgerichtet war. In der Ironier der Handarbeit liegt auch das Schicksal der Werkstücke, denn meistens hielten die gestopften Areale länger als das Kleidungsstück selbst.
Auch die Herrenunterhemden aus weißer, gerippter Baumwolle trägt nur noch eine Generation von Menschen, die den Krieg erlebt haben, die in der armen Nachkriegszeit das Land aufgebaut haben und man kann zweifellos behaupten, dass dieser Hemdentyp „Feinripp, halbarm“ eine genuin deutsche Männertracht geworden ist. Ihr haftet – ganz real – der Geruch der körperlichen Arbeit auf dem Feld, in den Hallen der Schwerindustrie und beim „Bau“ an. In diesen Hemden steckten einst die Männer, welche (Hoffnungs?)träger der Zukunft unseres Landes waren. Sowohl über die Hemden, als auch deren Träger und letztlich über unser Erinnerungsbild selbst ist die Maschine der Zeit gegangen. Sie hat Risse, Schrammen und tiefe Narben in der Oberfläche hinterlassen und sie löst einen schalen, einen bitteren Geschmack zwischen Trauer, Hass und Nostalgie aus, den man wirklich nicht genau einordnen kann.
Gerhard Glüher
Vier Jungen und ein Mädchen
Unbeholfen und linkisch führen vier Jungen und ein Mädchen Unterhosen für die Fotografin vor. Obwohl sie als Torsi fotografiert sind, haften ihren Gesten der Hände, der Arme, ihren Beinstellungen und ihren Beugungen der Hüfte ein Verhalten an, das man als laienhaft bezeichnen kann. Den Kindern sieht man an, dass sie die Künstlerin nur für diese Fotos als „Modelle“ einsetzte. Ihre halbnackten Körper sich die Frage, ob es überhaupt Unterhosen sind? Unseren zeitgenössischen Formen der „slips“ oder „boxershorts“ entsprechen diesen Hosen nicht. An welchen Merkmalen erkennen wir diese Hosen überhaupt als Unterhosen, denn viel haben sie noch nicht einmal mit Hosen gemeinsam. Sind wir einmal ehrlich: handelt es sich nicht um peinliche, wollene Lappen, die vor vielen Jahren
im positiven Sinn des Wortes. Um Individualität, gar um ebenso wie die Unterhemden der Männer sollten sie den Unterleib der Kinder schützen und wärmen. Sie sind auf das Wesentliche dieser Funktion beschränkte Stereotypen von Kindermode überhaupt. Das Männliche ist markiert durch ein Loch in der Vorderseite der Hose, dazu bestimmt, um den Penis zum Urinieren hindurch zu stecken, ohne die Hosen ausziehen zu müssen. Das
und die leichte Taillierung des Kleidungsstückes definiert. Sie scheint auch feiner gearbeitet und liegt stärker am Körper an, um die weiblichen Rundungen besser nach außen transportieren zu können. Durch diese absonderlichen Markierungen der Kleidungsstücke findet eine Infragestellung geschlechtlicher Rollen und ihrer Repräsentationsformen in den Konventionen der Mode statt. Ebenso „unpassend“
wie die Hosen mühsam am Körper gehalten werden – ohne die Hilfe der Hände würden die Lappen herunter rutschen und die Kinder stünden nackt da – sind auch die Geschlechtsdeterminanten. Die Hosen sind alt aber die Fotos sind heute aufgenommen, wodurch die künstlerische Aktion als eine Inszenierung von männlichen und weiblichen Rollenvorstellungen zu verstehen ist. Somit stellt
Frage, ob denn nicht diese viel zu großen und viel zu altmodischen Unterhosen wie unsere Rollenklischees als lächerliche Relikte der Prüderie und eines schlechten Konservativismus auf den Müllhaufen des Vergessens geworfen werden sollten.
Gerhard Glüher
Dialoge, Diskurse und Dissonanzen - oder:
ein Experiment mit zwei Unbekannten
Bereits der Ausstellungstitel führt uns durch das Wort "unbekannterweise" auf einen experimentellen Weg, dessen Anfang wir zwar kennen, dessen Ziel aber alle Möglichkeiten offen läßt. Mit ihrem Ausstellungsprojekt löst die Künstlerin Mia Unverzagt einen künstlerischen Prozeß aus, den wir als eine Folge von Aktionen und Reaktionen verstehen können. Ein Kunstwerk wird durch die Vermittlerin einem/einer anderen Künstlerin gezeigt und er oder sie wird aufgefordert, darauf wiederum in der Form eines selbst angefertigten Werkes zu reagieren. Mia Unverzagt verwendet für diesen Vorgang die Umschreibungen "Frage" und "Antwort". Zunächst liegt es nahe, das Ausstellungskonzept als eine Übertragung der Idee des Briefwechsels auf das künstlerische Schaffen zu verstehen, denn es kommt so etwas wie eine Rede und eine Gegenrede in Gang: ein Dialog. Doch bei näherer Untersuchung dessen, was beim Austausch der visuellen Botschaften wirklich geschieht, wird allmählich deutlich, daß die Sprache der ausgetauschten Malereien, Zeichnungen, Objekte und Fotografien eine viel komplexere ist, als die geschriebene Zeichensprache, welche in der Form von Worte eines Briefes gebraucht wird. Visuelle Botschaften sind nicht einfach "lesbar" im Sinne einer Transformation oder Codierung von einem Zeichensystem in ein anderes, sondern sie haben eine dichtere, eine stärker mit außersprachlichen Elementen verwobenere Struktur als die gesprochene (geschriebene) Sprache. Hinzu kommt die schwierige zweite Interpretationsebene des emotionalen Gehalts, welcher in der Tat nicht jedem Betrachter / jeder Betrachterin unmittelbar zugänglich ist. Um die Problematik der künstlerischen visuellen Kommunikation deutlich zu machen, möchte ich zunächst kurz darstellen, wie und wodurch der Austausch von Informationen stattfindet, denn dies ist wohl das Ziel jeder Kommunikation. Beginnen wir daher mit der Analyse der uns allen vertrauten sprachlichen Kommunikation.
Wie muß die Sprachfigur des Dialoges aufgebaut sein, damit er zu einem positiven Gelingen der Kommunikation beiträgt? Soll die Kommunikationsform des sprachlichen Dialoges zu einem Erfolg führen, so setzt sie mehrere Ebenen des Verstehens zwischen dem Sender und dem Empfänger der Botschaft voraus. Erstens müssen die beiden Kommunikationspartner die selbe Sprache beherrschen, was bedeutet, daß sie die Grammatik (die Kombinationsregeln) und den Wortschatz eines sprachlichen Codes gelernt haben müssen. Zweitens sollten sie möglichst übereinstimmende begriffliche "pools" benutzen, also die gleichen und sinngemäß übereinstimmenden Begriffe einsetzen, wenn sie über den selben Sachverhalt reden. Drittens müssen sie Informationen aufnehmen, weiterentwickeln und an den anderen Kommunikationspartner zurückgeben wollen.
Werden Dialoge zu kontinuierlichen Prozessen verkettet, so sprechen wir von Diskursen. Diskurse umkreisen praktisch spiralförmig eine These, ein Problem oder einen Sachverhalt, um schließlich den Kern der Fragestellung zu treffen, die den Anstoß des Diskurses lieferte. Wir können nun aber nicht immer den idealen Fall voraussetzen, daß sich Diskurse weiterentwickeln und zu konkreten Problemlösungen und Strategien des Handelns führen. Oftmals ist es die Regel, daß Diskurse - vor allem politische - auf der Stelle stillstehen oder sich in komplementäre Positionen festfahren. Setzen wir für unsere These das ideale spiralförmige Diskursmodell des Fortschreitens als Maßstab voraus, so müßten wir in diesen Fällen folgern, daß der Diskurs fehlgeschlagen wäre und die Diskurspartner nicht über die notwendige kommunikative Kompetenz verfügen. Ist dieses harte Urteil aber wirklich gerechtfertigt, oder müssen wir nicht im Angesicht des Scheiterns unser Idealmodell in Frage stellen? Man kann am Ende des 20. Jahrhunderts verstärkt die Tendenz beobachten, daß sich besonders in den logisch scheinbar fest verankerten naturwissenschaftlichen Denkmodellen und Theorien neue Diskurse durchsetzen, welche das Irrationale und Chaotische, das Absurde und Unwahrscheinliche in ihre Kalküle einbauen und damit zu erstaunlichen Erkenntnissen bzw. Prognosen kommen. Eben dieses Nicht-Lineare Denken könnte man als Diskursdissonanzen bezeichnen, als Leerstellen der Benennbarkeit oder als Brüche in der Spirale des Fortschrittgedankens. Treten solche Fälle auf, so müssen wir unsere Denkmodelle revidieren, nicht aber unser Erkenntnisinteresse an der Welt und ihren Phänomenen, denn diese Phänomene sind Fakt, das diskursive Denken ist Fiktion und Konstrukt. Bedenken müssen wir besonders die Beobachtung, daß positive Veränderungen oftmals ausgelöst werden durch festgefahrene Diskurse. In solchen Fällen haben wir die Diskursmodelle aufzugeben und andere zu suchen, wobei die eben genannten Leerstellen im Netz der tradierten Erklärungsmodelle wertvolle Chancen des Neubeginns geben. Dies ist auch in der Kunsttheorie und der Kunstgeschichte der Fall, denn beide Disziplinen sortieren gerne neue Phänomene in bereits bestehende begriffliche "Schubladen", weil man dann so bequem mit ihnen umgehen kann. Die diskursiv angelegte Ausstellungskonzepzion von Mia Unverzagt macht aber ganz deutlich, daß der Diskurs der KünstlerInnen ein modellhaftes Denken unterläuft und bildhafte Fakten liefert, die nicht mit schneller Hand einsortiert werden können. Dies ist auch gut so, denn damit treiben sie unsere Diskurse um den Kunstbegriff und die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten voran - sie führen somit zu einer Beschleunigung des Denkens und zu einer Art Revolte derjenigen Begriffe, mit denen wir über Bilder sprechen. Durch Mia Unverzagts Ausstellungsprojekt wird vielleicht erstmals deutlich, daß es neben einem Sprechen über Bildern auch ein Sprechen durch Bilder gibt.
Der vorliegende künstlerische Dialog stellt das Modellhafte der gewohnten sprachlichen Kommunikation auf den Kopf. Dies bedeutet, daß die Dissonanz, das Nicht-Kalkulierbare und eben das Nichtlineare fast schon zum Standart der Dialoge wird, während unser normales alltägliches Wechselgespräch eher die Ausnahme von der Regel darstellt. Können wir als BetrachterInnen und als KünstlerInnen überhaupt mit solchen dissonanten Strukturen von Frage und Antwort umgehen, mit anderen Worten, kann man Antworten finden auf visuelle Impulse, die man erst einmal als Frage oder als Aufforderung zur Kommunikation verstehen muß, bevor man darauf reagieren kann? Es ist so, als ob man Zeichen findet, deren Code man nicht kennt, wobei man aber weiß, daß sie etwas bedeuten müssen, denn sie wurden formuliert und niedergeschrieben von vernunftbegabten Wesen, welche innerhalb der Welt und ihrer überlieferten menschlichen Kommunikationssysteme leben und aufgewachsen sind. Der Rahmen, innerhalb dessen sich das "Lesen" der Zeichen abspielen muß liegt fest, viel mehr feststehende Parameter gibt es aber nicht. Das bedeutet, daß es für die beteiligten KünstlerInnen einfacher gewesen wäre, wenn sie auf eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen kulturellen und historischen Hintergrund und einen gemeinsamen Zeichenschatz hätten zurückgreifen können, doch genau diese Sicherheiten schließt die Initiatorin aus. Gegen die Annahme solcher gemeinsamer geistesgeschichtlicher Wurzeln spricht erstens die Tatsache, daß es wenige direkte Begegnungsmöglichkeiten innerhalb der beiden Kulturkreise gab und zweitens, daß sie keine gemeinsame Sprache sprechen.
Nun haben wir aber den besonderen Fall vor uns, daß das verwendete Kommunikationsmittel kein verbales, sondern ein bildliches (ikonisches) ist, welches ich vorsichtig als ein "universelles" bezeichnen möchte. Ich stelle die These auf, daß sich die KünstlerInnen gegenseitig verstehen, ohne die gemeinsame Sprache sprechen zu müssen - mehr noch, ohne daß sie hierzu auf ein normiertes Kommunikationssystem angewiesen sind. Das künstlerische Konzept von Mia Unverzagt wird ein ganzes Stück weit getragen von der Annahme einer Universalität künstlerischer bildlicher Kommunikationsformen. Dieses Axiom ist stimmig, denn bis auf die Arbeit von Mayim-B setzen die KünstlerInnen keine Schriftzeichen ein. Es hat in der Tat ein Dialog, wahrscheinlich sogar der Beginn eines Diskurses über eine nonverbale künstlerische Kommunikation durch diese Ausstellung stattgefunden. Der eingeschlagenen Weg kann über diese ersten drei Schritte hinaus weiter gegangen werden, selbst wenn Mia Unverzagt sich als antreibende Kraft aus dem Prozeß entfernt. Doch kehren wir zurück zu unserer Untersuchung der Formen und die generellen Möglichkeiten von Aktion und Reaktion als Prozeß der Kommunikation zwischen unbekannten Partnern.
Visuelle Kommunikation fand in der vorliegenden Form statt als ein Kalkül, welches mit zwei Unbekannten rechnen mußte. Die Unbekannten waren die KünstlerInnen und die bezeichnende und verbindende Brücke stellten die aus der Bundesrepublik mitgebrachten Kunstwerke dar. Die Initiatorin des Experimentes mußte mit dem Risiko des Fehlschlagens rechnen. Fehlgeschlagen wäre ihr Kommunikationsversuch, wenn nämlich die Brücke der universellen Sprache der visuellen Kommunikation nicht getragen hätte, oder mit anderen Worten, wenn die Arbeiten von den kubanischen KünstlerInnen nicht verstanden worden wären. Da sich aber Antworten gefunden haben und die Ausstellung realisiert ist, können wir davon ausgehen, daß sich die Dialoge über das Verstehen des Anderen und Unbekannten entwickelten.
Was heißt aber nun "verstehen" des Werkes? Es ist in diesem Aufsatz nicht der Raum, um das komplexe Thema des philosophischen Verstehens eines Kunstwerkes darzulegen, daher beleuchten wir das Problem unter dem Aspekt der eingangs erwähnten Besonderheit als Kommunikationsform. Eine Botschaft verstehen heißt demnach, ihren Inhalt genau so zu deuten, wie ihn der Absender formulierte. Jede Botschaft enthält einen Sinn, davon müssen wir ausgehen - selbst die bewußt gesteuerte Non-Sense Botschaft hat noch den Sinn, daß sie eben keinen Sinn haben will. Dieser semantische Kern der Botschaft muß transformiert ("übersetzt") werden in ein System aus bildlichen Zeichen, wobei wir gleich sehen, wie die KünstlerInnen die verschiedenen Ebenen der Zeichenfunktionen benutzt haben. Der wichtigste Schritt, um sich dem Unbekannten zu nähern ist wohl die Offenheit und Toleranz, das Fremde zu akzeptieren.
Alle Werke der Kunst besitzen neben einer Zeichenkomponente eine Ausdruckskomponente, die mehr ist als eine bloße Bezeichnung eines dargestellten Sachverhaltes oder einer Situation. Hinter der Ausdruckskomponente verbirgt sich ein ganzes ästhetisches System von artistischen Werten, die aus der Arbeit der Künstler / der Künstlerin dem Zeichensystem "Bild (oder Objekt)" mitgegeben wurden. Die ästhetische Ausdruckskomponente kennt nun keine verabredeten Codes, welche sie zu einem eindeutigen Relationssystem von Bezeichnendem und Bezeichnetem machen würde, sondern sie ist offen in dem Sinne, daß sie einen großen Freiraum der Interpretation zuläßt. Offenheit heißt jedoch nicht Beliebigkeit, sondern wiederum kreative oder schöpferische Wahl- und Interpretationsmöglichkeit in bestimmten Feldern von Bedeutungen. Dies beginnt bereits bei der Auswahl des künstlerischen Mediums und endet bei der Verwendung spezifischer Farbtöne oder Strichführungen. So kann man zum Beispiel nicht von einem genau definierten emotionalen Reiz sprechen, der bei dem Betrachter / der Betrachterin ausgelöst wird, wenn die Farbe Rot verwendet wird, sondern es hängt wesentlich davon ab, in welchen anderen innerbildlichen Zusammenhängen diese Farbe auftaucht und unter welchen Bedingungen diese Farbe rezipiert wird. Wir können feststellen, daß die ästhetischen Werte die rein syntaktischen Zeichen sowohl verstärken als auch abschwächen können. Bei der Betrachtung des Werkes muß man also davon ausgehen, daß zwei korrespondierende Zeichen- oder Informationssysteme parallel gelesen werden müssen, um zu einer Gesamtaussage und zu einem Urteil über den Sinn der Botschaft zu gelangen. Mia Unverzagts Methode der Bildpräsentation ist der Vergleich zwischen Frage und Antwort, wie sie es literarisch nennt, die unmittelbare Gegenüberstellung von "Vorbild" und "Nachbild" und wir sollen unsere Erkenntnisse aus ihrer Methode gewinnen. Folgen wir ihrem Weg und benutzen als Geländer unsere Zeichensysteme, so bemerken wir, daß die kubanischen KünsterInnen ihre Antworten an die Sprache derjenigen aus der Bundesrepublik angeglichen haben. Die einzige Ausnahme hiervon ist das Werkpaar von Armin Rohr und Aimée Garcia-Marrero, weil dabei nicht nur ein Medienwechsel bzw. Syntaxwechsel (hier Mischtechnik aus Zeichnung und Malerei, dort Objekt), sondern auch ein semantischer Wechsel stattgefunden hat. Dies heißt, Rohr präsentiert ein vollständig gegenstandsloses, objektförmiges Gemälde, das seinen ästhetischen Reiz aus der Konfrontation der Farben und Materialspuren zieht, während Garcia-Marrero eine Skulptur aus benennbaren gegenständlichen Objekten baut. In Rohrs Arbeit tauchen keine irgendwie gearteten Hinweise auf die Materialien, die Farben oder gar die bezeichneten Dinge von Garcia-Marrero auf, so daß wir bei diesem Bildpaar davon ausgehen müssen, daß die kubanische Künstlerin entweder keine Botschaft erkannt hat oder sie nicht lesen konnte. Mein Interpretationsversuch sieht so aus, daß jedes gegenstandslose Werk immer auch auf sich selbst zurück verweist, es ein sogenanntes autopoetisches Werk ist. Vielleicht übersetzt Garcia-Marrero diesen Aspekt, wenn sie einen geschlossenen Kreislauf mit dem Draht der Kopfhörer inszeniert. In diesem Fall dürften wir natürlich nicht das Unverständnis annehmen, sondern in ihrem Werk eine hochgradig reflektierte "Antwort" sehen.
Scheinbar genau umgekehrt und viel direkter findet die Umsetzung von Ralf Dorns Holzobjekt durch Liset Castillo-Valdés Fotografien statt. Dies ist jedoch nur oberflächlich betrachtet der Fall, denn der Medienwechsel von Malerei zu Fotografie bedeutet keine bloße Duplizierung des Vorgegebenen, welches ohne eine Eigenleistung der Fotografin vonstatten geht, sondern hier liegt ein intellektueller oder konzeptueller Schritt zugrunde, der mit der Veränderung der Syntax (Umsetzung der Farbtöne in adäquate Grautöne) gleichzeitig die ästhetische Aussage des Vorbildes und des technischen Mediums hinterfragt.
Bereits diese wenigen Beispiele verdeutlichen, daß die Bandbreite der Antwortmöglichkeiten vielgestaltig, (selbst)kritisch, rational, aber auch spontan, emotional gesteuert und humorvoll ausgefallen ist, wobei die oben genannte Offenheit der Interpretation vollständig ausgenutzt wurde und somit viele spannende Dissonanzen bietet. Wir finden keine deckungsgleichen und direkten Antworten, sondern Variationen, Umdeutungen, Interpretationen des Gesehenen, so daß wir von einer reflektierten Deutung des Materials bzw. der Botschaften ausgehen können. Das Experiment ist gelungen und die beteiligten KünstlerInnen haben sich auf den fruchtbaren Weg der Annäherung begeben. Wenn dies nicht das hohe und eigentliche Ziel der Kommunikation ist, dann sollten wir besser schweigen.
Elvis Fuentes
Wir sind die Barbaren!
Im Kuba des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt Matanzas auf Grund der Exporte von Zucker und anderen Produkten in die Vereinigten Staaten mit atembe-raubender Geschwindigkeit. Diese wirtschaftliche Entwicklung schuf ein kulturelles Klima, das der Stadt damals den Namen "das Athen Kubas" eintrug. Offensichtlich ging diese Blüte darauf zurück, dass eine schöne, nützliche Bucht vorhanden war, sowie ein ausgedehntes, fruchtbares Tal und wichtige Zuckerrohrpflanzungen nahe lagen. Aber der tiefer liegende Grund für diese Blüte war ein anderer: Nicht die Hauptstadt der Insel zu sein, damals spanische Kolonie.
Tatsächlich verfügte Havanna über die gleichen oder bessere Voraussetzungen als Matanzas, aber die Bestimmung zur Hauptstadt führte dazu, dass der Verwal-tungsapparat und die wirtschaftlichen Kontrollbehörden, die das Mutterland verlang-te, dort eingerichtet wurden. Das spanische Handelsmonopol war in jener Zeit ei-sern genug, um die Entwicklung der kreolischen Grundbesitzer und Industriellen zu bremsen. Durch die geografische Ferne "Athens" lockerte sich der Zugriff der Kontroll- und Verwaltungsbehörden.Das war das Schicksal vieler Gegenden in der damaligen Welt. In Kuba und der Karibik zeichnete es sich bereits sehr früh ab. Zu Beginn der Kolonialisierung, als die Vertreter des spanischen Imperiums von den Korsaren und Piraten geplagt wurden, unterhielten viele Bewohner des Hinterlandes einen regen Warenaus-tausch, obwohl dieser gesetzlich verboten war. Die Korsaren waren bewaffnete Händler: Schmuggler. Der Warenaustausch mit ihnen spiegelt sich im ersten in Ku-ba geschriebenen Gedicht wider, in Espejo de Paciencia von Silvestre Balboa, das auf einer wahren Begebenheit beruht: Die Entführung des Bischofs von Bayamo durch einen französischen Korsaren. In der Tat wurde die Stadt Bayamo durch die skandalösen Schmuggelaktivitäten seiner Bewohner berühmt und gleichzeitig im-mer wohlhabender.
Diese Beispiele aus der kubanischen Geschichte bereichern die herkömmliche Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie. Für gewöhn-lich begreift man diese Beziehung in paternalistischen Termini, und Schuldgefühle auf der einen wie Klagen auf der anderen Seite geben den Ton an. Thomas McEvilley spricht von einer aristotelischen Logik bei der Entwickung der Geschichte: Eine Handlung, eine Hauptfigur, garniert mit Nebenrollen und Fußnoten. Aber weit entfernt von Theorien dieses Typs entsprechen sowohl die Geschichte als auch Politik und Wirtschaft einer Struktur, die das Ergebnis der kolonialen Geisteshaltung, bei Kolonialherren wie Kolonisierten, ist. Die Vorstellung von einem Zentrum ist ein Auswuchs der pro-imperialen Grundhaltung.
Im Fall der Kultur spiegelt sich diese Einstellung in einer Flucht in die Nachah-mung wider; etwas, woran die Kunst und Literatur Lateinamerikas vielfach krankte. Der Konflikt Zivilisation - Barbarei hat die weitreichendste Auseinandersetzung des lateinamerikanischen Denkens im 19. und 20. Jahrhunderts ausgelöst. Die Erwide-rungen Martís auf Sarmiento, die Auseinandersetzung zwischen Kaliban und Ariel, umfasst historische Stellungnahmen Intellektueller, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Später kreiste die Debatte der Avantgardisten um die ästhetische Verankerung im Kosmopolitischen oder Regionalen. Der vorurteilsfreie Blick auf die Wirklichkeit führte bisweilen zu intelligenten und dauerhaft gültigen Interpretationen unserer gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, wie etwa Ortiz' Idee der Transkulturalität oder die Carpentiers von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Karibik.
Im Hinblick auf die literarische und poetische Tradition führte die Aufnahme sprachlicher Elemente aus den Völkern der "Peripherie" unstreitig zu einer Berei-cherung des "Zentrums". Schon die Geschichte des Okzidents beweist das. Man muss sich die griechischen Statuen und Tempel nur bemalt vorstellen, um den ori-entalischen Einfluss wahrzunehmen. Oder sich daran erinnern, wie fasziniert die humanistische Utopie von der Neuen Welt war; was der Kubismus der afrikani-schen Skulptur verdankt; die Sprachlektion, die der spanischen Literatur durch (die Sprache) Amerika(s) erteilt wurde. Auch ist, bei genauerem Hinsehen, die europäi-sche Tradition reicher geworden, weil sie mit anderen Augen betrachtet wurde: De-rek Walcott hat mit seinem "Omeros" einen Mythos geschaffen, Carpentier die Ge-schichte der Französischen Revolution überprüft, Franz Fanon Freudianismus und Marxismus miteinander verbunden und Jean Rhys die Erzählung der Brontë ver-vollständigt.
Aber selbst im Informationszeitalter und in den virtuellen Wirklichkeiten dauern die Konflikte zwischen dem befremdeten Blick des "Zivilisierten" und des "Barba-ren" fort. Heute nehmen sie eine neue Gestalt an: die der Globalisierung als öko-nomischer Tatsache und kultureller Bedrohung.
II
Das Fallen eines Wassertropfens in einen Teich bewirkt die konzentrischen Kreise, die das Verhältnis Zentrum - Peripherie am besten beschreiben. In den großen See der Geschichte und Geopolitik, dem das Wirken des Menschen auf diesem Planeten vergleichbar ist, sind viele Wassertropfen gefallen. Und häufig gleichzeitig, wie ein Nieselregen oder ein heftiger Wolkenbruch. Dennoch geschieht es biswei-len, dass sich um einige wenige Zentren Gruppen von Menschen versammeln, die vom Pomp geblendet oder mit Waffengewalt eingeschüchtert wurden.
Cubanacán war die "große Insel" oder das "Zentrum der Welt" in der Sprache der Taino, der Ureinwohner der Antillen. Aber schon Quisqueya war das gewesen, die "Große Insel", bevor die Taino nach Kuba kamen. Wie überall auf der Welt ver-änderte sich mit der Zeit ihr Bezugspunkt.
Das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie wird häufig als eine hierarchi-sche Beziehung angesehen, als solche begegnet man ihm auf unterschiedlichen Gebieten wie etwa in der Geopolitik, der Geschichte, der Wirtschaft und der Kultur. Man beobachtet ein vertikales Verhältnis zwischen einem Oben und einem Unten. Diese unterschiedlichen Gebiete können ihrerseits wieder relativ autonome Teilbe-reiche umfassen; Tatsache ist, dass im gesellschaftlichen Rahmen einige davon sichtbarer sind als andere. Aber in den spezifischen Teilbereichen jedes Gebiets kann sich diese vordergründige Hierarchie umkehren.
Zum Beispiel sind durch die Entwicklung der populären Religionen afrikanischen Ursprungs viele Begriffe und Redewendungen aus der Sphäre des Gottesdienstes überliefert, obwohl dieser Sprache in der Diglossie mit dem Spanischen die "schwache" Position zugewiesen wird. Für die verborgene Religionsausübung diente die Sprache als Maske: Der Sklavenhalter nahm überhaupt nichts wahr. A-ber selbst als sich die Situation geändert hatte, blieben die Begriffe erhalten, als seien sie Träger von magischen Konnotationen oder Authentizität.
Jedoch scheint die Vorstellung von einer hierarchischen Beziehung den politi-schen Bedingungen geschuldet, in denen sie entsteht. Die Wirklichkeit ist komple-xer und kann uns Dinge vor Augen führen, durch die sich die dramatischen Situati-onen, die die Peripherie durchlebt, relativieren. Zumindest in Kuba.
Die Technologie kann uns ein Beispiel dafür liefern. Die Verbindungen zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks führten in Kuba zum Import und Vertrieb von Fernsehgeräten, deren Technik stark rückständig war. Kuba war das dritte Land der Erde, in dem es überhaupt Fernsehgeräte gab und verfügte daher auch über das Angebot der ersten Stunde. Von diesen alten Modellen sind noch immer einige erhalten. Wenn ein Techniker die kaputten Empfänger reparieren soll, muss er sämtliche Stadien kennen, durch die das Fernsehen gegangen ist. Er kennt die Geschichte des Fernsehens wie niemand sonst: Röhren-TV, Transistor-TV, TV mit integrierter Schaltung. Wie alles andere werden diese Geräte aufbewahrt und wei-terhin benutzt; das Gleiche passiert mit den Computern. Die Ingenieure beherr-schen die verschiedenen Rechnergenerationen, ihre Sprachen und ihre Software, seien sie brandneu oder bereits Geschichte. Das ist eine mächtige Waffe: Die Techniker kennen das System, die Richtungsänderungen durch neue Erfindungen, die möglichen zukünftigen Bewegungen. Sie können die notwendigen Ersatzteile selbst herstellen. Die Potentiale sind riesig und warten darauf, sich zu offenbaren. Etwas Ähnliches geschieht im Bereich der Mechanik etwa mit den Automobilen; oder in der Industrie, wo Fabriken mit "museumsreifer" Technik arbeiten, die Teil des industriellen Erbes sein sollte und erhalten wird, weil man sie weiter benutzt.
In den Studienordnungen des Fachs Kunstgeschichte finden sich unterschiedli-che Lehrveranstaltungen zu Themen der Kunst und Literatur. Das Durchlaufen ei-ner Reihe konzentrischer Kreise, von denen ich oben sprach, ist spannend: allge-meine Kunst (Europa), Kunst Lateinamerikas, Kunst der Karibik, kubanische Kunst; genau so in der Literatur. Jeder trägt seinen Kanon bei. Die Zugehörigkeit zu einem Land, das seinerseits Teil einer Region ist und weitläufigere kulturelle Wurzeln hat, verlangt von den Wißbegierigen, ein ganzes Universum des Wissens zu berück-sichtigen. Es reicht nicht aus, die großartige Tradition der europäischen Malerei zu kennen, den westlichen Kanon aus Michelangelo, El Greco, Velázquez, Vermeer, Toulouse-Lautrec, Arp, Goncharova, Picasso, Warhol, Beuys, Haacke und Kruger. Man muss ihn um den regionalen Kanon ergänzen, um Rivera, Orozco, Frida, Tor-res-García, Petorutti, Lam, Matta, Amelia, Pogolotti, Dunkley, Homar, Obin, Hipoly-te, Martorell, Portocarrero, Eiriz und viele andere. Die schnelle Vermehrung der Namen kann zu der Neurose führen, wie sie einen Harald Bloom in Angst versetz-te. Das geschieht, wenn Wissen als ein Quell der Macht empfunden wird, als In-strument des Überlebens und des Wettbewerbs. Aber uns, die wir das Wissen lie-ben, weil uns jede schöpferische Aktivität Vergnügen bereitet, freut diese Vielfalt. Darin besteht unser Reichtum, einen immer umfassenderen Kanon in uns aufzu-nehmen. Wenn sie morgen einen neuen Neel in den Kanon aufnehmen, werden wir es wissen. Wenn wir allerdings einen Chago beisteuern, ist es gut möglich, dass sie es gar nicht mitbekommen. So wie die Mehrzahl derjenigen, die die historische Avantgarde studiert haben, nichts über einen Dichter und Kritiker der großen Kunst weiß, der früher als jeder Franzose die Essenz des Impressionismus klar erkannte: José Martí.
Verschiedene Kanons zu kennen, ist eine Form der Interkulturalität. Die Ergeb-nisse dieser permanenten Berührung sind Hybriden, Mischungen. Und bekanntlich werden die reichhaltigsten Formen der Kunst und Kultur durch die Mischung voll-bracht. Die Fruchtbarkeit der Grenzregionen ist ein Schlüsselthema zeitgenössi-scher Kulturtheorie und -kritik, aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Auf jeden Fall sind Vielfalt und Pluralität der Kulturen die Grundessenz menschli-chen Lebens.
Die Lockerung der Kontrollen berührt einen anderen Aspekt. Nach dem Sieg der Revolution gab die Nationaldruckerei im Wissen darum, sich am Rande der kapita-listischen Ordnung zu bewegen, zahlreiche Titel der Weltliteratur heraus: Sie be-zahlte keinerlei Urheberrechte, weil es sich um Eigentum handelte, das vergesell-schaftet werden sollte; Eigentum der Menschheit und daher des Volkes. Dadurch konnte eine solide Buchkultur in Kuba geschaffen werden; zwar gehen die wichti-gen Titel zur Neige, man ist aber durchaus auf dem Laufenden darüber, was sich international tut. Natürlich sind solche Situationen besonderen historischen Ereig-nissen geschuldet.
Zu guter Letzt hat die kubanische Wirklichkeit dazu beigetragen, dass die wirt-schaftliche Krise gute Kunst gedeihen ließ. Viele Künstler sind davon überzeugt, dass die Insel kein kommerzieller Umschlagplatz ist und richten bei ihren Besuchen den Blick auf anderes. Ein Beispiel unter vielen ist der bekannte argentinische Pia-nist Daniel Barenboim, der vor kurzem in Havanna gastierte. Nachdem er sein Konzertprogramm beendet hatte, spielte der Meister unter den Ovationen des Pub-likums noch zehn weitere Stücke.
Man muss bedenken, dass die Konstellation Zentrum-Peripherie oft genug in die Irre führt. Mit der Zeit ist die Bienale von Havanna ein Treffen sui generis geworden, das international geprägt ist und weltweites Interesse hervorruft. Das geht so weit, dass viele kubanische Künstler ihre Beteiligung an internationalen Kulturevents ab-lehnen, Stipendien und Auslandsaufenthalte verschieben, weil sie zu dieser Zeit in Havanna sein wollen. Oder eine Künstlergruppe aus Deutschland, aus dem Herzen Europas, kommt plötzlich auf die Idee, an einem Ort auszustellen, der lange Zeit für sein "geografisches Minus" bedauert wurde. Die Konstellation kehrt sich hier also um. Ich glaube nicht an das Peripherie-Syndrom. Letzten Endes wird man das Zentrum dadurch bekämpfen müssen, dass man andere schafft. Beten oder die Naturgewalten anrufen, auf dass sie die Tropfen in den Teich regnen lassen. Tun, was wir tun müssen, denn der Ort, an dem wir etwas erschaffen, wird ein Treffpunkt sein.
Samuel Herzog, September 2000
Nicht ganz wie beim Chinesen an der Ecke
Westlicher Umgang mit nicht-westlicher Kunst:
Kunsthistorische und kunstkritische Schwierigkeiten
Zeitgenössische Kunst aus China an der Biennale von Venedig, Kunst aus Südafrika in Zürich, junge Kunst aus Japan in Baden-Baden, "Cuba 2000" in Paris, die ganze Welt an der Biennale von Lyon und wenig später "Die Kunst der Welt in Paris"... Seit rund zehn Jahren sieht sich das Publikum in Europa in grösseren und kleineren Ausstellungen immer stärker mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen aus Ländern konfrontiert, die nicht zum sogenannten Westen gehören, die nicht zu den europäisch-nordamerikanischen Industrienationen zählen.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Die irritierende Vertrautheit des "Anderen"
Völlig fremd ist uns diese Kunst der "Anderen" meistens nicht ? die Gefühle, die sie in uns auslöst, müsste man eher als seltsam zwiespältig bezeichnen. Das hat weniger damit zu tun, dass uns diese Kunst völlig unverständlich wäre. Was uns vielmehr befremdet ist, dass diese Kunst der "Anderen" in den ihr zugrundeliegenden Haltungen, in den Strategien und auch den Medien oft unübersehbar mit unserer westlichen Produktion verwandt ist, dass sie gleichzeitig aber vor dem Hintergrund von Traditionen entsteht, die mit unserer westlichen Tradition kaum etwas gemein haben.
Die klassische Moderne formulierte zwar einen universellen Anspruch, ja behauptete zeitweise gar, eine universelle Sprache zu sein, sie war aber (sieht man von wenigen Ausnahmen wie Japan ab) ein vorrangig europäisches Phänomen, das nach dem Zweiten Weltkrieg seine vielleicht fruchtbarste Fortsetzung in den Vereinigten Staaten fand. Natürlich gab es in verschiedenen Regionen dieser Welt Entwicklungen, die parallel zur europäisch-nordamerikanischen Moderne vergleichbare Phänomene hervorbrachten. Viele der Künstler aber, die heute in den grossen Ausstellungen des Westens als nicht-westliche Künstler vertreten sind, stammen aus Ländern, die über keine vergleichbare Tradition verfügen.
Da wir im Westen dazu neigen, unsere aktuelle Kunstproduktion, unsere Begriffe und Strategien auch als Folge der Kunst der Moderne zu betrachten und so eine mehr oder weniger konsequente, mehr oder weniger konzise Geschichte konstruieren, muss uns eine Kunst verstören, die vor dem Hintergrund von ganz anderen Traditionen zu doch oft sehr ähnlichen Resultaten kommt. Dass wir in Europa ein unscharfes Foto oder eine Auslegeordnung von alltäglichen Plastikteilen als Kunst akzeptieren, hat vor dem Hintergrund unserer Kunstgeschichte eine gewisse Logik, nicht aber vor dem Hintergrund der kulturellen Geschichte Thailands oder Ghanas. So jedenfalls stellt es sich für uns hier im Westen dar ? und wir werden in dieser vielleicht ja falschen Einschätzung durch den Umstand bestärkt, dass die zeitgenössische Kunstproduktion nicht-westlicher Provenienz in den jeweiligen Herkunftsländern oft keinerlei oder bloss einen marginalen Rückhalt hat.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Reaktionen auf die Vertrautheit des "Anderen"
Wie nun können wir auf diese irritierende Ähnlichkeit des "Anderen" reagieren? Wir können eine Art von Anbiederung wittern und argwöhnen, dass sich die nicht-westlichen Künstler westlicher Strategien bedienen, um sich auf dem reichen westlichen Markt zu positionieren. Wir können auch annehmen, dass wir die Welt in unseren post-kolonialen Zeiten doch noch mit einem westlichen Kunstbegriff kolonisiert haben. Vielleicht akzeptieren wir auch einfach, dass sich gewisse Kunstbegriffe und Strategien, deren Ursprung wir im Westen wähnen ? aus welchen Gründen auch immer ? als so tauglich für die Thematisierung menschlicher Probleme, Sehnsüchte und Bedürfnisse erwiesen haben, dass sich zwar keine universelle Sprache, aber eine Art universeller Methode daraus hat entwickeln können.
Oder aber wir müssen an der Richtigkeit unserer westlichen Kunstgeschichte zweifeln und eine neue Geschichte schreiben. Diese könnte zum Beispiel beim bekannten Einfluss nicht-westlicher Kunst auf die Moderne ansetzen, sie könnte einen informations-technisch bedingten Ausfluss westlicher Positionen, Elemente und Begriffe in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg konstatieren und schliesslich den allmählichen Zusammenfluss des Westlichen und des Nicht-Westlichen in den letzten zehn bis zwanzig Jahren feiern: die Auflösung der westlichen Vorherrschaft im Bereich des Ästhetisch-Künstlerischen zu Gunsten einer neuen, globalen Kunstfruchtbarkeit. Einfluss, Ausfluss, Zusammenfluss - was für eine rührende Geschichte.
Kunsthistorische Schwierigkeiten: Der "Bruch" der Moderne als Voraussetzung
Viele der Schwierigkeiten, die wir bei der Entwicklung einer Haltung gegenüber einer nicht-westlichen Kunstproduktion haben, resultieren aus der zentralen Bedeutung, die in unserer westlichen Kunstgeschichte dem "Bruch" der Moderne zukommt. Wir fragen uns also, ob nicht-westliche Länder heute in Sachen Kunst einen Autonomisierungs-, einen Säkularisierungs- oder Befreiungsprozess durchmachen, der sich bei uns vor rund 150 Jahren abspielte? Tatsächlich betrachten wir in unseren Kunstgeschichten den Wechsel von einer die Natur imitierenden oder repräsentierenden Kunst in die Abstraktion auch heute noch als den entscheidenden Schritt in die künstlerische Moderne - die diversen Cézanne-Ausstellungen, die in jüngster Zeit das prä-kubistische und prä-abstrakte Genie dieses Malers zum wiederholten Male in ein vielbeachtetes Licht rückten, haben das illustriert. Nun aber war die möglichst lebensnahe oder lebenswirkliche Wiedergabe einer gegenständlichen Welt durch die Kunst, die mit der Moderne in Zweifel gezogen wurde, lediglich im Westen während einer gewissen Zeit das Mass aller Dinge in der Kunst. Bei den Fragen, die sich daraus ergeben, interessieren weniger jene nach dem Einfluss aussereuropäischer Kunst auf die Exponenten der klassischen westlichen Moderne. Vielmehr drängt sich hier die Frage auf, ob wir nicht heute diesen für uns so wichtigen "Bruch" der Moderne als Voraussetzung schlechthin für die Möglichkeit der Produktion zeitgenössischer Kunst ansehen - und damit einen Entwicklungsschritt weltweit zum Massstab erheben wollen, der vielleicht nur für unsere westliche Kultur so entscheidend war.
Vor diesem Hintergrund und angesichts unserer Verwirrung vor der Welt gibt es sicher einen Bedarf, die Kunstgeschichte dieses Jahrhunderts neu zu schreiben oder zumindest um einige Elemente zu ergänzen. Dies erneut aus einer westlichen Perspektive zu versuchen, wie es derzeit in einigen Projekten in Europa und den USA versucht wird, macht indes wohl eher wenig Sinn. Es ist an den Ländern der nicht-westlichen Welt, diese neue Kunstgeschichte zu schreiben, die ja ? wer weiss ? vielleicht gar keine Kunstgeschichte in unserem westlichen Sinn mehr sein wird. Wir hier im Westen sollten hierfür vielleicht Mittel bereitstellen, wir könnten Zusammenarbeit anbieten, vielleicht auch fruchtbare Formen von Streit suchen. In jedem Fall aber sollten wir eindeutige Positionen einnehmen, die vor unserem kulturellen Hintergrund verständlich sind ? ein möglichst klares Gegenüber sein.
Kunstkritische Schwierigkeiten: Ein Mangel an Kriterien
Für den Kritiker, den Theoretiker im Westen stellen sich aber auch Probleme wenn er auf den grossen historischen Bogen verzichtet und nur im kleinen Bereich der Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen operiert - ganz pragmatische Schwierigkeiten also. Aufgabe des Kritikers ist es, Kunst nicht nur zu beschreiben, sondern auch einzuschätzen, zu beurteilen. Dafür braucht es ? zumindest wenn man sich nicht damit begnügen will, Unverständliches oder Euphorisches in die Welt zu setzen ? Kriterien. Der westliche Kritiker nun aber hat seine Kriterien aus den Diskursen der Moderne abgeleitet und diese sind damit die Folge einer ganz bestimmten Geschichte, einer Auffassung von Welt und eines Alltags. Begegnen wir nun aber Positionen aus nicht-westlichen Ländern, so resultiert diese Kunst oft ? auch wenn sie in ihrer Haltung und ihren Strategien mit unserer westlichen Produktion verwandt ist ? aus einer komplett anderen Geschichte, einer anderen Auffassung von Welt und vor allem einem gänzlich anderen Alltag.
Prinzipiell gibt es für den westlichen Kritiker drei Möglichkeiten, auf diese "andere" Kunst zu reagieren. Erstens kann er die Kunst nicht-westlicher Provenienz stur nach jenen Kriterien beurteilen, die aus den Diskursen der Moderne hervorgegangen sind und die er an den Entwicklungen der europäisch-nordamerikanischen Kunst geschärft hat. Das führt zu Vergleichen und fast immer dazu, dass man ganz allgemein die künstlerische Leistung eines nicht-westlichen Kunstwerks zwar - schliesslich ist man ja grosszügig im Umgang mit den "Anderen", die fast immer auch die Ärmeren sind - gnädig akzeptiert, ihre Erfindungsleistung aber schmälert oder auch negiert indem man aufzeigt, wo etwas sehr ähnliches natürlich viel früher auch schon in der westlichen Kunst gemacht worden ist.
Die zweite Möglichkeit, die der westliche Kritiker ergreifen kann, besteht darin, sämtliche Kriterien aufzulösen und die eigene Position zu thematisieren: Das gibt einem die Möglichkeit, sich selbst in grosszügiger Weise das Recht abzusprechen, als weisser Mitteleuropäer überhaupt irgendetwas über das Werk eines schwarzen Südafrikaners oder einer Chinesin zu sagen ? geschweige denn ein Qualitätsurteil zu fällen. Da die meisten Kritiker peinlichst darauf bedacht sind, bloss nichts zu schreiben, das irgendwann als falsch betrachtet werden könnte, ist das derzeit eine sehr verbreitete Praxis.
Kunstkritische Schwierigkeiten: Das Entwickeln spezieller Kriterien für das "Andere"
Die dritte Möglichkeit schliesslich besteht darin, neue Erwartungen zu entwickeln - spezielle Kriterien, nach denen wir die Kunst der "Anderen" beurteilen. Und natürlich können das keine Kriterien sein, die wir aus dem Umgang mit unserer eigenen Kunst im Westen entwickeln, sondern es sind Kriterien, die wir aus unserem Wissen über die Verhältnisse in den Ländern der "Anderen" gewinnen. Viele dieser Länder sind in schwierigen sozialen und politischen Situationen - bedingt durch Diktaturen, Armut, Embargos, Kriege, Unterdrückung etc. Also haben wir das Gefühl, die Künstler dieser Länder müssten solche Themen in ihren Arbeiten aufnehmen, sich politisch oder sozial engagieren, möglichst kritisch sein gegenüber den Regierungen ihrer Länder oder zumindest feministisch, also kritisch gegenüber den Männern ihrer Länder. Auch eine kritische Haltung gegenüber der Rolle, die der Westen in diesen Ländern spielt, können wir akzeptieren.
Die grundsätzliche Haltung, die wir da gegenüber Kunst aus nicht-westlichen Ländern einnehmen, unterscheidet sich kaum von der Haltung, die wir ? wenn auch vielleicht weniger bewusst ? gegenüber Kunst aus dem Westen einnehmen: In beiden Fällen haben wir den Anspruch, die Kunst müsse zu einer Verbesserung dieser Welt und des Lebens auf diesem Planeten beitragen. Während wir aber der Kunst aus dem Westen ein schier grenzenlos weites Feld für Verbesserungen einräumen (von philosophischen Verbesserungen bis zu ästhetischen, von Verbesserungen im sozialen Bereich bis zur Verbesserung unserer Partykultur), engen wir das Feld für Künstler aus nicht-westlichen Ländern tendenziell ein ? weniger aus Unwissenheit oder aus einem Gefühl der kulturellen Überheblichkeit heraus, sondern schlicht weil wir davon ausgehen, dass die Menschen in diesen Ländern dringende Probleme haben und die Kunst ergo von diesen dringenden Problemen handeln muss. Alles andere halten wir für eine Art von Luxus und das macht uns Mühe - vielleicht auch, weil wir ab und zu etwas für irgendwelche Hilfsprojekte in diesen Ländern spenden und es uns folglich irritiert, wenn diese Länder dann in der Kunst auf Luxus-Produktion setzen.
Dass wir damit das Feld einengen, auf dem wir nicht-westliche Kunst als Kunst akzeptieren können, ist das eine. Da die meiste nicht-westliche Kunst aber bis heute auf Unterstützung aus dem Westen angewiesen ist, im Westen ihre Foren hat und oft auch vorwiegend im Westen verkauft werden kann, engen wir damit gleichzeitig auch das Aktivitätsfeld dieser Künstler ein und zwingen sie ? oft mit Erfolg ?, unsere Erwartungen zu bedienen. Indem wir eine solche Haltung gegenüber nicht-westlicher Kunst einnehmen, deklarieren wir übrigens indirekt einen Grossteil unserer westlichen Kunstproduktion als Luxusangelegenheit.
In einem Fall allerdings akzeptieren wir auch einen Verzicht auf soziales Engagement: Dann, wenn uns die Künstler mit exotische Reizen verwöhnen und uns einen wunderbar fremden Zauber vorgaukeln. In diesen Fällen fühlen wir uns auf eine angenehme Weise inkompetent - genau wie wenn wir beim Chinesen an der Ecke, feierabendlich eingelullt in den Singsang einer glockenhellen Stimme, unsere Nudelsuppe schlürfen. Ganz frei von Misstrauen ist das jedoch nicht: Beim Chinesen an der Ecke wissen wir, dass er mit dem ganzen exotischen Kitsch die Bedürfnisse seiner Kundschaft befriedigt - bei der Kunst haben wir manchmal den Verdacht und fühlen uns schon allein deshalb genötigt, die Sache nicht ganz ernst zu nehmen.
Was aber können Kritiker hier im Westen angesichts von nicht-westlicher Kunst tun, wenn ihnen die Kriterien davonschwimmen und sie wissen, dass sie mit bestimmten Erwartungen die nicht-westliche Kunst in ein Korsett treiben? Sie können sich die Problematik bei der Rezeption nicht-westlicher Kunst zumindest immer wieder mal vor Augen führen und versuchen, sich die Kriterien für die Beurteilung einer Arbeit vom Werk selbst und den ihm eingeschriebenen Absichten und Zielen diktieren zu lassen. Wo das nicht gelingt, ist es wohl das ehrlichste, seinen eigenen Zweifeln Ausdruck zu geben und damit für das Publikum und die Produzenten immerhin eine Reibungsfläche zu bieten, einen Ansatz zu Diskussionen zu liefern.