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Wir sind die Barbaren!


Im Kuba des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt Matanzas auf Grund der Exporte von Zucker und anderen Produkten in die Vereinigten Staaten mit atembe-raubender Geschwindigkeit. Diese wirtschaftliche Entwicklung schuf ein kulturelles Klima, das der Stadt damals den Namen "das Athen Kubas" eintrug. Offensichtlich ging diese Blüte darauf zurück, dass eine schöne, nützliche Bucht vorhanden war, sowie ein ausgedehntes, fruchtbares Tal und wichtige Zuckerrohrpflanzungen nahe lagen. Aber der tiefer liegende Grund für diese Blüte war ein anderer: Nicht die Hauptstadt der Insel zu sein, damals spanische Kolonie.


Tatsächlich verfügte Havanna über die gleichen oder bessere Voraussetzungen als Matanzas, aber die Bestimmung zur Hauptstadt führte dazu, dass der Verwal-tungsapparat und die wirtschaftlichen Kontrollbehörden, die das Mutterland verlang-te, dort eingerichtet wurden. Das spanische Handelsmonopol war in jener Zeit ei-sern genug, um die Entwicklung der kreolischen Grundbesitzer und Industriellen zu bremsen. Durch die geografische Ferne "Athens" lockerte sich der Zugriff der Kontroll- und Verwaltungsbehörden.Das war das Schicksal vieler Gegenden in der damaligen Welt. In Kuba und der Karibik zeichnete es sich bereits sehr früh ab. Zu Beginn der Kolonialisierung, als die Vertreter des spanischen Imperiums von den Korsaren und Piraten geplagt wurden, unterhielten viele Bewohner des Hinterlandes einen regen Warenaus-tausch, obwohl dieser gesetzlich verboten war. Die Korsaren waren bewaffnete Händler: Schmuggler. Der Warenaustausch mit ihnen spiegelt sich im ersten in Ku-ba geschriebenen Gedicht wider, in Espejo de Paciencia von Silvestre Balboa, das auf einer wahren Begebenheit beruht: Die Entführung des Bischofs von Bayamo durch einen französischen Korsaren. In der Tat wurde die Stadt Bayamo durch die skandalösen Schmuggelaktivitäten seiner Bewohner berühmt und gleichzeitig im-mer wohlhabender.
Diese Beispiele aus der kubanischen Geschichte bereichern die herkömmliche Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen Zentrum und Peripherie. Für gewöhn-lich begreift man diese Beziehung in paternalistischen Termini, und Schuldgefühle auf der einen wie Klagen auf der anderen Seite geben den Ton an. Thomas McEvilley spricht von einer aristotelischen Logik bei der Entwickung der Geschichte: Eine Handlung, eine Hauptfigur, garniert mit Nebenrollen und Fußnoten. Aber weit entfernt von Theorien dieses Typs entsprechen sowohl die Geschichte als auch Politik und Wirtschaft einer Struktur, die das Ergebnis der kolonialen Geisteshaltung, bei Kolonialherren wie Kolonisierten, ist. Die Vorstellung von einem Zentrum ist ein Auswuchs der pro-imperialen Grundhaltung.
Im Fall der Kultur spiegelt sich diese Einstellung in einer Flucht in die Nachah-mung wider; etwas, woran die Kunst und Literatur Lateinamerikas vielfach krankte. Der Konflikt Zivilisation - Barbarei hat die weitreichendste Auseinandersetzung des lateinamerikanischen Denkens im 19. und 20. Jahrhunderts ausgelöst. Die Erwide-rungen Martís auf Sarmiento, die Auseinandersetzung zwischen Kaliban und Ariel, umfasst historische Stellungnahmen Intellektueller, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Später kreiste die Debatte der Avantgardisten um die ästhetische Verankerung im Kosmopolitischen oder Regionalen. Der vorurteilsfreie Blick auf die Wirklichkeit führte bisweilen zu intelligenten und dauerhaft gültigen Interpretationen unserer gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, wie etwa Ortiz' Idee der Transkulturalität oder die Carpentiers von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Karibik.
Im Hinblick auf die literarische und poetische Tradition führte die Aufnahme sprachlicher Elemente aus den Völkern der "Peripherie" unstreitig zu einer Berei-cherung des "Zentrums". Schon die Geschichte des Okzidents beweist das. Man muss sich die griechischen Statuen und Tempel nur bemalt vorstellen, um den ori-entalischen Einfluss wahrzunehmen. Oder sich daran erinnern, wie fasziniert die humanistische Utopie von der Neuen Welt war; was der Kubismus der afrikani-schen Skulptur verdankt; die Sprachlektion, die der spanischen Literatur durch (die Sprache) Amerika(s) erteilt wurde. Auch ist, bei genauerem Hinsehen, die europäi-sche Tradition reicher geworden, weil sie mit anderen Augen betrachtet wurde: De-rek Walcott hat mit seinem "Omeros" einen Mythos geschaffen, Carpentier die Ge-schichte der Französischen Revolution überprüft, Franz Fanon Freudianismus und Marxismus miteinander verbunden und Jean Rhys die Erzählung der Brontë ver-vollständigt.
Aber selbst im Informationszeitalter und in den virtuellen Wirklichkeiten dauern die Konflikte zwischen dem befremdeten Blick des "Zivilisierten" und des "Barba-ren" fort. Heute nehmen sie eine neue Gestalt an: die der Globalisierung als öko-nomischer Tatsache und kultureller Bedrohung.

II

Das Fallen eines Wassertropfens in einen Teich bewirkt die konzentrischen Kreise, die das Verhältnis Zentrum - Peripherie am besten beschreiben. In den großen See der Geschichte und Geopolitik, dem das Wirken des Menschen auf diesem Planeten vergleichbar ist, sind viele Wassertropfen gefallen. Und häufig gleichzeitig, wie ein Nieselregen oder ein heftiger Wolkenbruch. Dennoch geschieht es biswei-len, dass sich um einige wenige Zentren Gruppen von Menschen versammeln, die vom Pomp geblendet oder mit Waffengewalt eingeschüchtert wurden.
Cubanacán war die "große Insel" oder das "Zentrum der Welt" in der Sprache der Taino, der Ureinwohner der Antillen. Aber schon Quisqueya war das gewesen, die "Große Insel", bevor die Taino nach Kuba kamen. Wie überall auf der Welt ver-änderte sich mit der Zeit ihr Bezugspunkt.
Das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie wird häufig als eine hierarchi-sche Beziehung angesehen, als solche begegnet man ihm auf unterschiedlichen Gebieten wie etwa in der Geopolitik, der Geschichte, der Wirtschaft und der Kultur. Man beobachtet ein vertikales Verhältnis zwischen einem Oben und einem Unten. Diese unterschiedlichen Gebiete können ihrerseits wieder relativ autonome Teilbe-reiche umfassen; Tatsache ist, dass im gesellschaftlichen Rahmen einige davon sichtbarer sind als andere. Aber in den spezifischen Teilbereichen jedes Gebiets kann sich diese vordergründige Hierarchie umkehren.
Zum Beispiel sind durch die Entwicklung der populären Religionen afrikanischen Ursprungs viele Begriffe und Redewendungen aus der Sphäre des Gottesdienstes überliefert, obwohl dieser Sprache in der Diglossie mit dem Spanischen die "schwache" Position zugewiesen wird. Für die verborgene Religionsausübung diente die Sprache als Maske: Der Sklavenhalter nahm überhaupt nichts wahr. A-ber selbst als sich die Situation geändert hatte, blieben die Begriffe erhalten, als seien sie Träger von magischen Konnotationen oder Authentizität.
Jedoch scheint die Vorstellung von einer hierarchischen Beziehung den politi-schen Bedingungen geschuldet, in denen sie entsteht. Die Wirklichkeit ist komple-xer und kann uns Dinge vor Augen führen, durch die sich die dramatischen Situati-onen, die die Peripherie durchlebt, relativieren. Zumindest in Kuba.
Die Technologie kann uns ein Beispiel dafür liefern. Die Verbindungen zu den Staaten des ehemaligen Ostblocks führten in Kuba zum Import und Vertrieb von Fernsehgeräten, deren Technik stark rückständig war. Kuba war das dritte Land der Erde, in dem es überhaupt Fernsehgeräte gab und verfügte daher auch über das Angebot der ersten Stunde. Von diesen alten Modellen sind noch immer einige erhalten. Wenn ein Techniker die kaputten Empfänger reparieren soll, muss er sämtliche Stadien kennen, durch die das Fernsehen gegangen ist. Er kennt die Geschichte des Fernsehens wie niemand sonst: Röhren-TV, Transistor-TV, TV mit integrierter Schaltung. Wie alles andere werden diese Geräte aufbewahrt und wei-terhin benutzt; das Gleiche passiert mit den Computern. Die Ingenieure beherr-schen die verschiedenen Rechnergenerationen, ihre Sprachen und ihre Software, seien sie brandneu oder bereits Geschichte. Das ist eine mächtige Waffe: Die Techniker kennen das System, die Richtungsänderungen durch neue Erfindungen, die möglichen zukünftigen Bewegungen. Sie können die notwendigen Ersatzteile selbst herstellen. Die Potentiale sind riesig und warten darauf, sich zu offenbaren. Etwas Ähnliches geschieht im Bereich der Mechanik etwa mit den Automobilen; oder in der Industrie, wo Fabriken mit "museumsreifer" Technik arbeiten, die Teil des industriellen Erbes sein sollte und erhalten wird, weil man sie weiter benutzt.
In den Studienordnungen des Fachs Kunstgeschichte finden sich unterschiedli-che Lehrveranstaltungen zu Themen der Kunst und Literatur. Das Durchlaufen ei-ner Reihe konzentrischer Kreise, von denen ich oben sprach, ist spannend: allge-meine Kunst (Europa), Kunst Lateinamerikas, Kunst der Karibik, kubanische Kunst; genau so in der Literatur. Jeder trägt seinen Kanon bei. Die Zugehörigkeit zu einem Land, das seinerseits Teil einer Region ist und weitläufigere kulturelle Wurzeln hat, verlangt von den Wißbegierigen, ein ganzes Universum des Wissens zu berück-sichtigen. Es reicht nicht aus, die großartige Tradition der europäischen Malerei zu kennen, den westlichen Kanon aus Michelangelo, El Greco, Velázquez, Vermeer, Toulouse-Lautrec, Arp, Goncharova, Picasso, Warhol, Beuys, Haacke und Kruger. Man muss ihn um den regionalen Kanon ergänzen, um Rivera, Orozco, Frida, Tor-res-García, Petorutti, Lam, Matta, Amelia, Pogolotti, Dunkley, Homar, Obin, Hipoly-te, Martorell, Portocarrero, Eiriz und viele andere. Die schnelle Vermehrung der Namen kann zu der Neurose führen, wie sie einen Harald Bloom in Angst versetz-te. Das geschieht, wenn Wissen als ein Quell der Macht empfunden wird, als In-strument des Überlebens und des Wettbewerbs. Aber uns, die wir das Wissen lie-ben, weil uns jede schöpferische Aktivität Vergnügen bereitet, freut diese Vielfalt. Darin besteht unser Reichtum, einen immer umfassenderen Kanon in uns aufzu-nehmen. Wenn sie morgen einen neuen Neel in den Kanon aufnehmen, werden wir es wissen. Wenn wir allerdings einen Chago beisteuern, ist es gut möglich, dass sie es gar nicht mitbekommen. So wie die Mehrzahl derjenigen, die die historische Avantgarde studiert haben, nichts über einen Dichter und Kritiker der großen Kunst weiß, der früher als jeder Franzose die Essenz des Impressionismus klar erkannte: José Martí.
Verschiedene Kanons zu kennen, ist eine Form der Interkulturalität. Die Ergeb-nisse dieser permanenten Berührung sind Hybriden, Mischungen. Und bekanntlich werden die reichhaltigsten Formen der Kunst und Kultur durch die Mischung voll-bracht. Die Fruchtbarkeit der Grenzregionen ist ein Schlüsselthema zeitgenössi-scher Kulturtheorie und -kritik, aber darauf möchte ich hier nicht weiter eingehen. Auf jeden Fall sind Vielfalt und Pluralität der Kulturen die Grundessenz menschli-chen Lebens.
Die Lockerung der Kontrollen berührt einen anderen Aspekt. Nach dem Sieg der Revolution gab die Nationaldruckerei im Wissen darum, sich am Rande der kapita-listischen Ordnung zu bewegen, zahlreiche Titel der Weltliteratur heraus: Sie be-zahlte keinerlei Urheberrechte, weil es sich um Eigentum handelte, das vergesell-schaftet werden sollte; Eigentum der Menschheit und daher des Volkes. Dadurch konnte eine solide Buchkultur in Kuba geschaffen werden; zwar gehen die wichti-gen Titel zur Neige, man ist aber durchaus auf dem Laufenden darüber, was sich international tut. Natürlich sind solche Situationen besonderen historischen Ereig-nissen geschuldet.
Zu guter Letzt hat die kubanische Wirklichkeit dazu beigetragen, dass die wirt-schaftliche Krise gute Kunst gedeihen ließ. Viele Künstler sind davon überzeugt, dass die Insel kein kommerzieller Umschlagplatz ist und richten bei ihren Besuchen den Blick auf anderes. Ein Beispiel unter vielen ist der bekannte argentinische Pia-nist Daniel Barenboim, der vor kurzem in Havanna gastierte. Nachdem er sein Konzertprogramm beendet hatte, spielte der Meister unter den Ovationen des Pub-likums noch zehn weitere Stücke.
Man muss bedenken, dass die Konstellation Zentrum-Peripherie oft genug in die Irre führt. Mit der Zeit ist die Bienale von Havanna ein Treffen sui generis geworden, das international geprägt ist und weltweites Interesse hervorruft. Das geht so weit, dass viele kubanische Künstler ihre Beteiligung an internationalen Kulturevents ab-lehnen, Stipendien und Auslandsaufenthalte verschieben, weil sie zu dieser Zeit in Havanna sein wollen. Oder eine Künstlergruppe aus Deutschland, aus dem Herzen Europas, kommt plötzlich auf die Idee, an einem Ort auszustellen, der lange Zeit für sein "geografisches Minus" bedauert wurde. Die Konstellation kehrt sich hier also um. Ich glaube nicht an das Peripherie-Syndrom. Letzten Endes wird man das Zentrum dadurch bekämpfen müssen, dass man andere schafft. Beten oder die Naturgewalten anrufen, auf dass sie die Tropfen in den Teich regnen lassen. Tun, was wir tun müssen, denn der Ort, an dem wir etwas erschaffen, wird ein Treffpunkt sein.

Elvis Fuentes